Göttin der Rosen
selbst zu.
»O nein!« Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die schwer in Mitleidenschaft gezogenen Büsche untersuchte. Schon gestern hatte sie gedacht, dass die Rosen verwelkt aussahen, aber sie hatte gehofft, dass sie nur mal wieder überängstlich war, was ihre Schützlinge anging. Heute war klar, dass sie sich zu Recht Sorgen gemacht hatte. Selbst im schwachen Licht des Brunnens konnte sie deutlich erkennen, dass die sonst so kräftigen, glänzenden Blätter blass und spröde waren. Und auch die Blüten sahen gar nicht gut aus. Schlaff hingen sie da, und einige der Blütenblätter hatten sich verfrüht gelöst und lagen jetzt auf dem Boden um die Büsche herum wie Federn eines sterbenden Vogels.
Mikki schüttelte langsam den Kopf. »Das ist echt schlechtes Timing.« Sie seufzte. »In dem Zustand seid ihr nicht stark genug, um das kalte Wetter zu überstehen. Wenn der Winter richtig hart wird, verlieren wir womöglich dieses ganze Beet.« Mikki ging um die Sträucher herum wie eine zornig-besorgte Kindergärtnerin.
Der Gedanke an den möglichen Verlust so vieler geliebter Rosenbüsche zerriss ihr fast das Herz. Mikki wusste, dass die meisten Leute ihre Liebe zu Rosen nicht verstehen konnten – ihre Freundinnen hatten ihr oft genug gesagt, dass Rosen doch nur Pflanzen waren, keine Menschen, nicht einmal Haustiere. Aber wann immer Mikki eine Rose berührte oder auch nur den berauschenden Duft der Gärten einatmete, fühlte sie sich an ihre Mutter und an ihre Großmutter erinnert; durch die Rosen konnte sie ihre Liebe spüren, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Mikki war es leid, alle zu verlieren, die sie liebte.
Sie musste etwas unternehmen! Rasch sah sie sich um. Die Ebene war menschenleer. Nichts regte sich, bis auf Wasser und Wind. Gedankenverloren kratzte Mikki an ihrem ohnehin abblätterndem Nagellack.
Tu es einfach! , sagte sie sich. Niemand wird es je erfahren.
Der leere Kühler schien sie zu rufen. Mikki traf ihre Entscheidung.
»Okay«, sagte sie zu dem ihr am nächsten stehenden Rosenbusch. »Aber erzähl das bloß keinem weiter!«
Kurzentschlossen griff sie sich den Kühler, ging damit zum Brunnen und tauchte ihn ins Wasser. Sie wartete, bis der Behälter bis obenhin gefüllt war, dann wollte sie ihn wieder herausheben – und stöhnte unter seinem Gewicht. Nur mit großer Kraftanstrengung schaffte sie es, ihn hochzuhieven, und das Wasser schwappte über ihre Füße, als sie den Kühler auf dem Boden neben sich abstellte.
In Sekundenschnelle löste sie das Pflaster von ihrer Handfläche. Auf der Wunde hatte sich bereits ein dünner Schorf gebildet, doch die Haut war noch rosa und weich. Mikki legte den rechten Daumennagel auf den Schnitt, schloss die Augen, hielt den Atem an – und drückte den Nagel in die Wunde, um sie wieder zu öffnen.
Sie sog scharf die Luft ein, als ein stechender Schmerz in ihre Handfläche fuhr. Doch als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie erleichtert fest, dass bereits frisches Blut aus der Wunde quoll. Mit einer Grimasse tauchte sie die Hand in den wassergefüllten Kühler.
Wenn sie nach Hause kam, würde sie die Wunde noch einmal gründlich desinfizieren müssen.
Ohne auf den Schmerz in ihrer Handfläche zu achten, schleppte sie den gefüllten Kühler zurück zu dem Beet mit den kranken Rosen. Als sie auf der Baustelle ankam, blieb sie einen Moment stehen, unsicher, was sie als Nächstes tun sollte.
»Ihr seid so viele«, flüsterte sie den Rosen zu. Es war offensichtlich, dass sie nicht genug Blutwasser hatte, um allen Büschen ihren üblichen Anteil zu geben. Sie spürte, wie sich ein sarkastisches Grinsen auf ihrem Gesicht breitmachte. Dafür müsste sie eine verdammte Vene öffnen – und das wäre wahrscheinlich keine gute Idee.
Mikki stemmte die Hände in die Hüften und musterte die Rosen mit prüfendem Blick. »Wie wäre es, wenn ich euch einfach mit ein paar Tropfen bespritze?« Die Büsche antworteten nicht, was Mikki als Zustimmung interpretierte. Sie bückte sich zu dem Kühler hinunter und verteilte das hellrot verfärbte Wasser mit beiden Händen über die Büsche. Bald wurde die Prozedur zu einer Art Spiel. Fröhlich lachend spritzte sie das Wasser auf ihre hilfsbedürftigen Schützlinge und stellte sich vor, sie wäre eine Gartenfee, die ihre Magie auf schlafende Kinder herabregnen lässt.
Als sie fertig war, atmete sie schwer, lächelte aber übers ganze Gesicht. Sie musterte die feuchten Büsche. Vielleicht ging nur
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