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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hinten nach vorne auf. Das nächste, was zu nichts verpuffte, war die Überfahrt auf dem Schiff. Ihr Leben begann mit der Ankunft in Swakopmund. Sie hatte nie etwas anderes gesehen als Südwest.
    Staunend und wehrlos mußte sie mitansehen, was Qabbo ihr antat. Sie war machtlos dagegen. Ihr Stoß aus Wut und Empörung war das Schlimmste gewesen, das sie in dieser Welt zustande brachte – für mehr fehlte ihr die Erfahrung –, und damit hatte sie ihn nicht aufhalten können. Jetzt würde er das tun, was er wahrscheinlich von Anfang an vorgehabt hatte: Er löschte ihre gesamte Existenz aus bis zu jenem Punkt in der Omaheke, an dem die Weisen die Saat der Wüste in ihr verankert hatten, an dem sie zu einem Teil des Landes und zu einem Teil der San geworden war. Sie würde Qabbos Plänen nicht länger widersprechen. Sie würde einsehen, daß es das einzig Richtige war, um das Volk der San zu retten. Ihr Volk.
    Dann aber brach Qabbos Zerren an ihren Erinnerungen auf einen Schlag ab. Cendrines Blick klärte sich, und sie sah, daß etwas den San gepackt hatte. Etwas schüttelte ihn, stauchte ihn zusammen wie eine Lumpenpuppe und schleuderte ihn davon.
    Eine Gestalt gewann vor ihr an Konsistenz. Sie hatte Cendrine den Rücken zugewandt, eilte erneut auf Qabbo zu und hob ihn vom Boden, ohne ihn überhaupt zu berühren. Qabbo strampelte und schrie. Einen Augenblick lang war sein Kreischen das eines Neugeborenen, im nächsten Moment wieder das eines erwachsenen Mannes.
    Eine Stimme drang in Cendrines Geist, aber es waren nur unzusammenhängende Silben. Das Gerede eines Wahnsinnigen.
    Qabbos Erinnerungen fuhren wie ein Insektenschwarm aus seinem Leib, brachen durch die schemenhafte Gestalt seines Peinigers und trafen mit Wucht auf Cendrines angeschlagenes Bewußtsein. Sie sah, wie dem San auch der Rest seiner Kindheit entzogen wurde, wie sein Leben dahinjagte wie Bilder eines Traumes, den man am Morgen Revue passieren läßt und dann vergißt. Das, woran Cendrine aus Unerfahrenheit gescheitert war, tat dem San nun ein anderer an. Und allmählich dämmerte ihr, um wen es sich dabei handelte.
    Das wahnsinnige Gespenst, zu dem Wilhelm Haupt während seines jahrelangen Irrwegs durch die Welt der Schamanen geworden war, entriß Qabbo jeden eigenen Gedanken, jedes Gefühl, jede Spur von Selbstbestimmung. Er leerte ihn aus, wie man die Füllung aus einem alten Kissen reißt, achtlos, ohne Rücksicht auf Schäden an dem, was man ohnehin fortwerfen wird. Qabbo mochte mit den Gegebenheiten dieser Welt vertraut sein, aber keiner kannte sie so gut wie einer, der hier auf ewig gefangen war – eine Gefangenschaft, die er keinem anderen als Qabbo zu verdanken hatte.
    Wilhelm Haupt nahm Rache, und er tat es mit der peniblen Gründlichkeit eines Wesens, das keinen Verstand und kein Verständnis mehr besitzt. In ihm war nichts als Qual und Einsamkeit.
    Der Verirrte, der Geschlagene, der Betrogene trank Qabbos Leiden und aß seine Seele. Wäre er mit durchdachter Tücke vorgegangen, hätte er dem San seine größte Angst gelassen, die Furcht vor dem Gefangensein in der Dunkelheit; in seinem Zorn und Triumph aber nahm er ihm alles, verzehrte es und spie es weiter zu Cendrine hinüber, bis von Qabbo nur eine leere Hülle übrig war. Leben, ja, aber keine Erinnerung, keine Vergangenheit. Kein Weg aus dieser Welt zurück in seine eigene. Endlose Einsamkeit, ohne den Grund dafür zu kennen. Ein Suchender, der nicht wußte, was es zu finden galt. Ein Lebender, der kein Sinn in seinem Dasein sah, kein Ziel, kein Streben. Ein Verdammter, der sogar den Grund für seine Verdammnis vergessen hatte.
    Jäh erkannte Cendrine, daß sie Haupts Geist nicht zum erstenmal gegenüberstand. Damals, bei ihrem ersten Besuch in dieser Welt, mußte sie ihn schon einmal getroffen haben. Ihre Erinnerung daran war verlorengegangen, und sie kehrte auch jetzt nicht wieder. Dennoch war sie sicher, daß sie ihm begegnet war.
    Hatten sie miteinander gesprochen? Hatte er sie vor Qabbo und den anderen Weisen gewarnt, davor, daß es ihr ähnlich ergehen mochte wie ihm, der während seiner Initiation den Rückweg aus den Augen verloren hatte?
    Mit einemmal widerstrebte es ihr, das Ende dieses Wahnsinns mitanzusehen.
    Mit dem Rest ihrer Kraft ließ sie sich fallen, öffnete den gleißenden Abgrund unter sich und stürzte allein zurück in die Wirklichkeit, hinab in den Schoß der Weißen Göttin.
    ***
    Hinter der Gestalt in den weißen Gewändern, jenseits der Stallungen, hoch über

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