Göttin der Wüste
Ängste, die er in jenem Schacht durchlitten hätte , brachen jetzt – mit vielen Jahren Verspätung – über ihn herein.
Einen Moment lang überkam Cendrine Mitleid. Alles, was Qabbo tat, tat er zum Wohle seines Volkes. Er war nicht der finstere, Intrigen spinnende Schurke, den sie gern in ihm sehen wollte.
Nichtsdestotrotz blieb er ihr Feind. Er konnte nicht wirklich annehmen, daß sie sich bereitwillig in das Schicksal fügen würde, das er für sie vorgesehen hatte. Sie würde sich nicht für einen Mythos opfern.
Plötzlich spürte sie, daß sich etwas veränderte.
Qabbos Leiden schien zu explodieren, eine Eruption gequälter Gedanken und Empfindungen, geballt zu einer Faust, die sie packte, mit sich riß und an einen Ort brachte, den sie erst ein einziges Mal in dieser Intensität wahrgenommen hatte.
Die Ebene der Schamanen.
Ob es am Klang dieser Worte lag oder an der schlichten Unmöglichkeit, die andere Welt mit den Gesetzen der Realität in Einklang zu bringen – Cendrine jedenfalls erschien dieser Ort tatsächlich als Ebene, als endloses Savannenland, das irgendwo genau so existieren mochte oder auch nicht. Braunes, flaches Land, mit struppigem Gras bewachsen. Darüber ein Himmel so hell wie weißglühender Stahl.
Qabbo stand vor ihr, glänzend vor Schweiß, das Gesicht verzerrt, die Augen wie Gewehrläufe auf sie gerichtet.
»Du hast nichts begriffen«, zischte er. »Nichts.«
Sie kämpfte noch mit dem Entsetzen darüber, daß es ihm gelungen war, sie zu überrumpeln. Anders als beim Ritual der Weisen hatte sie diesmal keinen hellen Abgrund gesehen, nichts, das sie vorgewarnt hätte. Sie wußte nicht, wie lange sie sich während ihrer Initiation hier aufgehalten hatte, besaß keine Erinnerung daran, abgesehen vom blitzartigen Auftauchen der Gazellenherde am Horizont. Alles andere war ungewiß.
»Du bist so dumm, Cendrine«, sagte Qabbo leise. »Du hättest deine Macht zum Besten anderer einsetzen können, für die San, für die Erste Rasse. Was du tust, ist nichts als eine Flucht vor der Verantwortung.«
»Eine Verantwortung, die mich für immer in diesem Tempel gefangenhält«, gab sie atemlos zurück. Das Sprechen tat ihr weh, nicht im Hals, sondern in ihrem Kopf, so als bereite das Denken selbst ihr Schmerzen.
»Verantwortung bedeutet immer auch Entbehrung. Glaubst du, ich hätte mein Schicksal selbst gewählt, Cendrine? Auch ich wäre lieber mit anderen durch die Wüsten und Steppen gezogen. Statt dessen wurde ich zu einem der Weisen. Nicht ich habe diese Wahl getroffen – das hat meine Begabung für mich getan. Anderssein ist nichts, das man bekämpfen kann. Man muß es akzeptieren.«
»Hat die Frau im Tempel ihr Schicksal jemals akzeptiert?«
»Gewiß.«
»Du willst doch nicht behaupten, sie sei glücklich dort, wo sie ist?«
»Glücklich …« Qabbos Tonfall klang verächtlich. »Sie ist wahrscheinlich das einzige lebende Wesen, das je wahres Glück kennengelernt hat. Sie war die erste Frau. Sie weiß, wie es war, bevor das Verhängnis über uns kam. Sie selbst hat es heraufbeschworen.«
»Sie hat immer noch die Hoffnung. Darauf, daß ihr vergeben wird, und darauf, daß ihr Sohn … daß ihr Mann zu ihr zurückkehrt.«
»Der Brudermörder wird nicht mehr in den Tempel zurückkehren.«
Cendrine ließ seinen Einwand nicht gelten. »Was für eine Hoffnung hätte ich? Hoffnung worauf? Nein, Qabbo, ich bin nicht bereit für die Ewigkeit. Und ich kann euren verdammten Baum nicht heilen. Niemand kann das.«
Qabbo blickte sie voller Trauer an. »Was also wirst du tun? Weiter mit mir kämpfen? Mich vernichten? Ist das deine Hoffnung? Es wird dir nicht gelingen. Nicht hier. Das hier ist viel mehr meine Welt als die deine. Ich war oft hier, viele Dutzend Male.«
Sie bündelte ihren Zorn und ließ ihn wie eine Lawine auf ihn zurollen. Qabbo wurde nach hinten geschleudert, kam aber gleich wieder auf die Beine. Bevor er zu einem Gegenschlag ansetzen konnte, besann sich Cendrine auf ihren ersten Versuch, ihn zu bezwingen. Wenn es ihr gelang, ihm seine Vergangenheit zu nehmen …
Bremen verschwand. Zerbarst in einer Wolke funkelnder Gedankensplitter. Qabbos Macht entriß ihr die Erinnerung daran, und mit ihr das Wissen um das, was zwischen ihr und Elias gewesen war.
Sie erkannte noch, daß etwas verlorenging, aber sie wußte nicht mehr, was es war, denn das Löschen ihrer Erinnerung war gründlich und endgültig. Qabbo schlug sie mit ihrer eigenen Waffe. Er krempelte ihre Vergangenheit von
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