Goldbrokat
Wunsch war erfüllt, der Tod seines Bruders vergolten. Und er selbst hatte endlich den Drachen bezähmt.
Denn die Fähigkeit, die auch seinem Paten eigen war, von ihm aber leichtfertig ausgenutzt worden war, besaß auch er. Servatius war ein charismatischer Mann, dem die Menschen folgten oder den sie bekämpften. Er hatte es immer mit einem Lachen hingenommen und seinen Nutzen daraus gezogen. Doch Handeln zeitigte Folgen, und die hatte er nie bedacht. So war eine Spur der Vernichtung entstanden, die bis in die Gegenwart hinein gewirkt hatte und fast seinen leiblichen Sohn das Leben gekostet hätte. Selbst einem gebrochenen Schmetterling wie Nona hatte er eine Waffe in die Hand gegeben, die sie zur kaltblütigen Mörderin hatte werden lassen. Er hatte den Fall des Fritz Kormann mit Paul-Anton diskutiert und seine Schlüsse daraus gezogen.
Auch ihm war die Gabe des Drachen gegeben, die sein Pate so leichtherzig eingesetzt hatte. Er aber hatte erkannt, dass damit umzugehen auch Verantwortung bedeutete.
Ein salziges Gischtflöckchen traf sein Gesicht und brachte ihn in die Gegenwart zurück.
Noch gut zwei Monate, und er würde wieder in China sein. Und sehr bald würde er zusammen mit Ariane den Kalten Berg besteigen. Er freute sich darauf, das stumme Gespräch mit Xiu Dao Yuan zu führen.
Die Fesseln der Vergangenheit waren nun abgeschüttelt, die
Zukunft von ihnen unbelastet. Doch neue Fäden waren gesponnen worden, die sich zu neuen Mustern ordnen würden.
Nur eine Kleinigkeit war bislang nicht sauber verknüpft worden, und dieser Makel sollte heute, unter der Sonne des Äquators, behoben werden.
Vor dem runden Fenster glitzerte die Sonne auf dem Wasser, und vor mir glitzerten die Goldfäden in der Seide. Gernots Geschenk, ein Stoff, ausschließlich für mich gewebt. Aus reinweißer chinesischer Seide mit dem Muster, das ich als Erstes für ihn entworfen hatte. Eine Kostbarkeit in vielerlei Hinsicht. Sehr sorgsam hatte ich ihn verarbeitet. Und nun würde ich dieses wundervolle Gewand aus Goldbrokat anlegen.
So viel hatte ich hinter mir gelassen, so viel lag vor mir. Manchmal war ich mir nicht ganz sicher, ob ich träumte oder wachte. Aber dann war Drago wieder da, und wenn ich mich an ihn lehnte, fühlte ich seinen beständigen Herzschlag, seinen ruhigen Atem. Dann mochte kommen, was kommen sollte.
Ich war glücklich, und glücklich waren auch alle, die bei mir waren. Laura und Philipp sprudelten über vor lauter Freude. Ich fragte mich gelegentlich, was sie am meisten begeisterte – die Tatsache, dass sich ein wahrer Drache von einem Vater um sie kümmerte, dass es nach China ging oder dass sie sich an Bord eines prachtvollen Klippers befanden. Sie hatten die Reise mit Begeisterung angetreten, und noch nicht einmal die Tatsache, dass bisher noch keine einbeinigen Piraten das Schiff geentert hatten, trübte ihr Vergnügen. Kein Pirat, außer Captain Mio natürlich. Der Kater hatte nach anfänglichem Misstrauen den schwankenden Planken gegenüber den Klipper als sein Hoheitsgebiet erkannt, an der Kapitänskajüte seine Duftmarke hinterlassen und dann alles von der Bilge bis zum Steuerrad inspiziert. Vorhin hatte ich ihn beobachtet, wie er versuchte, den Großmast zu erklimmen. Derzeit aber lag der alte Pirat kieloben auf meinem Bett und schnurrte, weil die Sonne seinen Bauch wärmte.
Auch George war aufgeblüht unter der Ägide meiner Rabauken – oder auch auf Grund der langen Gespräche, die Drago und ich mit ihm geführt hatten. Inzwischen lachte er häufiger und entwickelte sogar einen Sinn für Schabernack. Mir gegenüber zeigte er eine scheue Verehrung und stilles Vertrauen. Aber er hatte auch neue Verpflichtungen auf sich genommen, eine davon war, mir und den Kindern die Kunst des Essens mit Stäbchen beizubringen und uns die Grundzüge der chinesischen Sprache und Schrift zu lehren. Himmel, war das eine komplizierte Angelegenheit. Aber wir würden sie meistern, dessen war ich mir ganz sicher. Ich wollte in dem neuen Land nicht als arrogante Fremde auftreten, sondern den Menschen die Höflichkeit erweisen, mich wenigstens rudimentär mit ihnen verständigen zu können. Laura erwies sich besonders geschickt darin, die Schriftzeichen zu Papier zu bringen – sie malte eben gerne, und mit ihr zusammen beschäftigte sich George nun auch ohne Heimlichkeit mit seinen Zeichnungen.
Schade, dass Leander unser Angebot nicht angenommen hatte. Meinen Bruder hätte ich gerne an unserer Seite gewusst, aber er
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