Macabros 115: Skorokka - Strom ins Totenland
Als er den Rolls in die Avenue lenkte, wußte der Mann am
Steuer noch nicht, daß diese Nacht sein Leben von Grund auf
ändern würde.
Er lächelte. »Da vorn ist es, Darling…«, sagte
er. Sein Gesicht glänzte, seine Augen nicht weniger. Ronald
Myers hatte einiges getrunken. Viel Champagner. Dementsprechend war
seine Stimmung. Heiter, fröhlich und unbeschwert. Er hätte
die ganze Welt aus den Angeln heben können, so fühlte er
sich.
Die Frau auf dem Beifahrersitz legte den Kopf an seine Schultern
und kraulte seinen Nacken. Das schwere, rassige Parfüm stieg
Myers in die Nase. Der Duft paßte zu Clarissa. Frauen wie sie
waren seine Schwäche. Langbeinig, schwarzhaarig, vollbusig. Er
freute sich auf das Wochenende mit ihr… Hier draußen in
seinem Haus, rund zwanzig Meilen nördlich von Londons Zentrum,
waren sie ungestört… Schließlich lebte er nach seiner
Scheidung allein in der großen alten Villa und trug niemand
gegenüber eine Verantwortung.
Links und rechts der Straße wuchsen alte Eichen, dahinter
lagen sündhaft teure Villen. Die meisten waren von hohen Mauern
umgeben und durch ein nicht minder hohes Tor zu erreichen.
So auch das Anwesen Myers’, der als Transportunternehmer
wohlhabend geworden war. Im ganzen Land fuhren seine Lkws. Er
transportierte Frischfleisch, Käse und Milchprodukte, Waren
für die Industrie und hatte seine Finger auch in fast jedem
Umzug, der vom Norden bis zum Süden durchgeführt wurde.
Der Rolls rollte langsam auf das reichverzierte, schmiedeeiserne
Tor zu. Ein breiter Weg führte zwischen alten Bäumen zur
Villa.
»Ein schönes Haus«, sagte Clarissa mit
bewunderungswürdigem Augenaufschlag.
»Warte erst mal, bis du drin bist«, strahlte Myers.
»Es wird dir bestimmt gefallen.«
»So – wie ich dir gefalle?« Ihre schlanke Hand
streichelte seine Wange.
»Ja. So wie du mir. Du weißt, daß ich schon lange
verrückt nach dir bin…« Er hielt vor dem großen
Tor, beugte sich zu Clarissa hinüber und zog sie an sich.
»Ron… noch ein bißchen Geduld«, wisperte die
Frau lachend. »Im Haus ist es bestimmt bequemer…«
Er ließ seine Hände durch ihr dichtes, langes Haar
gleiten, das seidig schimmerte und verführerisch duftete.
In einem Seitenfach steckte die Fernbedienung für das
große, auf Ultraschall reagierende Tor. Mit dem unhörbaren
Signal öffnete er es und fuhr den Weg zum Haus entlang,
während sich das Tor automatisch hinter ihm wieder
schloß.
Das Haus lag im Dunkeln. Hinter keinem einzigen Fenster brannte
Licht.
Es war leer und verlassen…
Doch der äußere Eindruck täuschte.
Am hintersten Parterre-Fenster stand abwartend eine dunkle Gestalt
und sah durch die zugezogenen Vorhänge die Ankunft des Wagens.
Das Paar stieg aus und küßte sich leidenschaftlich vor dem
Hauseingang…
»Das wird dein letztes Vergnügen sein«,
flüsterte die Gestalt hinter dem Fenster und verzog die Lippen
zu einem teuflischen Grinsen. »In ein paar Minuten, Myers, werde
ich deine Rolle, dein Auto, dein Leben und deine Geliebte
übernehmen.«
Der Mann, der das sagte, sah aus wie Ronald Myers. Nicht den
geringsten Unterschied gab es im Gesichtsschnitt.
*
Ronald Myers schloß die Haustür auf, nachdem er die
Alarmanlage ausgeschaltet hatte.
»Hast du Angst, daß mal etwas passieren
könnte?« fragte Clarissa.
»Heutzutage muß man mit allem rechnen,
Darling.«
Er nannte jede Frau ›Darling‹. Bei dem Verschleiß,
den er gerade auf diesem Gebiet aufzuweisen hatte, lohnte es nicht,
daß er sich einen Namen merkte.
Er knipste das Licht an, trat zur Seite und ließ seine
elegante Begleiterin, die er aus dem ›Horse-Club‹
mitgebracht hatte, vorangehen.
Clarissa bewegte sich mit dem wiegenden, geschmeidigen Gang eines
Mannequins.
Sie war eine Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog.
Und sie gehörte – dies wortwörtlich – zu den
besten Pferden im Stall des ›Horse-Clubs‹.
Der Club existierte seit zwei Jahren. In ihm traten – wie im
weltberühmten Moulin Rouge und anderen namhaften Pariser
Nachtclubs – die ›schönsten Frauen der Welt‹ auf,
wie der Manager des ›Horse-Clubs‹ auf seinen Plakaten
verkündete.
Clarissa hatte im ›Horse‹ ihren Solo-Part. Wenn sie ihre
Lieder sang und dabei – kaum bekleidet – wie eine
Traumerscheinung über die Bühne wirbelte, machte sie alle
Männer verrückt.
Seit Monaten bemühte sich Myers, die Australierin an seinen
Tisch zu bekommen – und erst recht in sein Bett. Bisher hatte
Weitere Kostenlose Bücher