Goldfalke (German Edition)
spricht, möchte ich hinzufügen. Doch das ist ein Ärgernis anderer Art. Gießt mir noch etwas Tee ein, Kinder!“
Als sich Kiana beeilte, dieser Bitte nachzukommen, fuhr Fatima fort: „Aus Scham hast du niemandem ve rraten, was Yusuf getan hatte. Weil jedoch nach deiner Hochzeitsnacht kein Blut auf dem Bettlaken war, kamen deiner Schwiegermutter Zweifel an deiner Jungfräulichkeit vor der Ehe. Zur Rede gestellt erzähltest du von dem Vorfall mit Yusuf in der Scheune, was er jedoch leugnete, weil sein streng religiöser Vater ihn dafür hart bestraft hätte. Daher wiesen dich die Rustamis als Lügnerin aus dem Haus, nicht ohne dir dringend anzuempfehlen, deinem Leben wegen der Schande deiner fehlenden Jungfräulichkeit ein Ende zu setzen. Eine Meinung, die deine Tante und dein Onkel einhellig teilten. Abdullah befahl seinem Sohn Mustafa, den er auf diese Weise zu einem Mann machen wollte, die Ehre der Familie wiederherzustellen, indem er dir die Kehle durchschnitt. Und weil du deinem Cousin das nicht zumuten und du sowieso mit dieser Schande nicht leben wolltest, hast du dich noch am selben Tag in ebenjener Scheune erhängt.“
„Oh Gott!“, keuchte Amir.
„Oh Scheiße!“, keuchte Nesrin.
Kiana konnte nichts sagen. Nicht mal a tmen. Weil sie tief in ihrem Inneren die Wahrheit von Fatimas Worten spürte. Wenn irgendetwas geschehen würde, das ihre Jungfräulichkeit in den Augen von Tante Shabnam und Onkel Abdullah in Zweifel zog, würde sich das, was die Seherin so nüchtern geschildert hatte, genauso abspielen.
Haargenau so!
„In dieser Vision wollte ich die Katastrophe verhindern“, ergänzte Fatima, „indem ich dich aufsuchte, dir alles erklärte und deiner Tante und deinem Onkel drohte, dir bloß kein Haar zu krümmen. Doch du glaubtest mir nicht, und deiner Tante gelang es, dir einzureden, dass ich nur eine böse alte Hexe wäre, die dich im Auftrag der Hölle vom rechten Weg abbringen wollte. Sie schafften dich am selben Tag noch zum Dorf deines Bräutigams und dort nahm das Schicksal seinen Lauf.“
Die Schultern der alten Frau sackten herab. „ Das war wohl eine Warnung des Universums, denn auch zu früheren Anlässen habe ich manchen Krieg, den ich zu verhindern suchte, dadurch erst heraufbeschworen. Nur wenige Minuten später hatte ich eine zweite Vision, in der ich niemandem auch nur ein Wort mehr als das Allernötigste erklärte. Alles, was ich tat, war, dich mit Kenntnissen und Erfahrungen auszustatten, die dich befähigten, selbst das Schicksal zu wenden. Die Vision endete mit dem Bild, wie du aufrecht und stolz vor deinen Verlobten trittst, die Verlobung löst und so dein Schicksal wendest. Was sich wohl vorhin genauso zugetragen hat.“
Fatimas knochige Hand wies in Amirs Richtung. „Das zu deiner Frage, Söhnchen, warum ich Kiana als die geweissagte Schicksalswenderin bezeichnet habe. Dass dies umgehend jeder auf das Schicksal des Schimmernden Palastes bezog, hatte ich zwar nicht beabsic htigt, doch ich berichtigte es nicht. Denn so konnte niemand etwas gegen Kianas Anwesenheit dort einwenden.“ Sie legte ihre Hand zurück auf ihren Schoß. „Das Weissagen ist ein heimtückisches Handwerk. Manchmal überkommt es mich so klar wie einer dieser Fernsehfilme in der Trüben Welt, und manchmal lässt es mich auch im Stich. Dass Kiana Damon besiegen würde, hielt ich nie für wahrscheinlich. Mein Wunsch war viel bescheidener: das Lösen einer Verlobung.“
„Krass, hey! Gut, dass Ki den Typen abserviert hat!“
„In der Tat, Töchterchen! Kiana hat den Weg des go ldenen Falken eingeschlagen. Und ich würde sagen, sie hat gut gewählt.“
Eine Entschuldigung murmelnd kam Kiana auf die Beine. Die Wucht von Fatimas Bericht ließ eine Vielzahl von Gefü hlen in ihr aufplatzen. So wie ihr ganzes Leben aufgeplatzt schien, bloßgelegt von einer alten Frau, die sie vor wenigen Tagen noch nicht einmal gekannt hatte.
Kiana stolperte hinein in das Hauptzelt und we iter zum Eingang. Dort lehnte sie sich an den rechten der hölzernen Stützpfosten und zog mit zittrigen Atemzügen die frische Luft in ihre Lungen.
Miro thronte nach wie vor auf Nesrins Teppich und erzählte die ganze Geschichte vom Sieg seines S imurgh-Geschwaders über das Heer des Löwen-Sultans von neuem.
Einer plötzlichen Regung folgend öffnete Kiana den Gla sanhänger an ihrem Hals. Wie ein funkelnder Pfeil schoss der Goldfalke hervor und stieg in den Himmel hinauf. Das Sonnenlicht brach sich auf seinem
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