Goldfasan
durch das Menschengewirr Richtung Ausgang zu drängen, wurde aber vom Luftschutzordner und seinen Helfern daran gehindert, die Schleusentür zu öffnen.
Detonation folgte auf Detonation. Sekunden dehnten sich zu Minuten, Minuten zu Stunden. Starr vor Angst warteten die Eingeschlossenen auf das Ende der Angriffe. Dann endlich heulten die Sirenen Entwarnung. Die Bunkertüren wurden geöffnet und die Menschen strömten ins Freie.
Lisbeth Golsten und Marianne Berger gehörten zu den letzten, die den Bunker verließen. Zögernd blieb Lisbeth Golsten am Ausgang stehen.
Marianne Berger griff ihre Hand. »Was ist los?«, fragte sie. »Warum kommst du nicht? Hat dir das da drin so gut gefallen?«
Lisbeth Golsten liefen Tränen über das Gesicht. Sie flüsterte: »Ich habe mich vor Angst nass gemacht.«
Marianne Berger nickte und nahm sie tröstend in den Arm. »Da wirst du nicht die Einzige sein.«
5
Dienstag, 30. März 1943
S ein Schreibtisch bog sich vor Akten. Entgegen der landläufigen Meinung war trotz der drakonischen Strafen, die deutsche Gerichte und besonders der Volksgerichtshof verhängten, die Zahl der Kapitalverbrechen im nationalsozialistischen Deutschland nicht gesunken. Im Gegenteil: Da viel mehr Delikte unter Strafandrohung standen als früher, hatte die Zahl der Verbrechen zugenommen.
Die Zeitungen des Reichs hatten allerdings strikte Order, nicht darüber zu berichten, es sei denn, die Straftaten wurden von sogenannten Nichtariern begangen und konnten propagandistisch ausgeschlachtet werden. Peter Golsten und seine Kollegen wussten es besser.
Sie waren jedoch per Befehl zum Schweigen verpflichtet worden. Wobei so ein Befehl kaum nötig war, ohnehin beschäftigte sich nur eine kleine Minderheit der deutschen Polizisten mit solchen Gedanken. Die überwiegende Mehrheit der Angehörigen der Sicherheitspolizei stand fest zum nationalsozialistischen Staat und seinen Repräsentanten, und sei es auch nur deswegen, weil sie einen entsprechenden Eid geschworen hatten. So auch Peter Golsten, der früher Goldstein geheißen hatte.
Anlass für die Namensänderung war ein Gespräch gewesen, welches Goldsteins Vorgesetzter nach dem Zusammenschluss von Kriminalpolizei, Sicherheitsdienst der SS und der Gestapo mit ihm geführt hatte. Im neu gebildeten Reichssicherheitshauptamt, so der Oberkriminalrat damals, müsse besonderer Wert auf einwandfreie Abstammung gelegt werden. Deshalb sei es wichtig, sich von diesem kompromittierenden Nachnamen zu trennen, um zukünftig keine beruflichen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Diese Entscheidung sei sein Bekenntnis für die Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt, für den nationalsozialistischen Staat und für Deutschland und seiner Karriere nur förderlich. Und so kam es, dass aus Peter Goldstein, Hauptkommissar der Bochumer Kriminalpolizei, am 3. Oktober 1939 Peter Golsten geworden war, Hauptkommissar und zusätzlich SS-Hauptsturmführer im Amt V des Reichssicherheitshauptamts mit Dienstsitz in Bochum. Ein überzeugter Nationalsozialist war er trotzdem nicht geworden. Er diente nur dem Staat und seinen Gesetzen, fand er. Keiner Ideologie. Die Bestätigung seiner SS-Mitgliedschaft war nach nur wenigen Tagen gekommen. Seine Beförderung zum Kriminalrat jedoch blieb ein uneingelöstes Versprechen.
Seit fast zwanzig Jahren lebte Peter Golsten nun schon im Ruhrgebiet. Ursprünglich stammte er aus Straßburg, wo er auch Abitur gemacht hatte. Wie viele Frontoffiziere, die desillusioniert aus dem Großen Krieg zurückgekehrt waren, war er später zur neu gegründeten Kriminalpolizei in Berlin gestoßen. Von dort war er wegen seiner französischen Sprachkenntnisse Anfang 1923 in das besetzte Ruhrgebiet gesandt worden, um den Mord an einer Bergarbeitertochter aufzuklären. Später erhielt er in Bochum eine Stelle als Kriminalkommissar. Und Lisbeth, die Schwester der Toten, war seine Frau geworden.
Zusammen mit dem Schwiegervater lebten Peter Golsten und seine Frau in einer Bergarbeitersiedlung in Herne. Bei der Übertragung des Wohnrechts für das Steigerhaus auf den Kriminalbeamten hatte sich die Wohnungsverwaltung der Zeche generös verhalten. Zwar sei er kein Bergmann, hieß es damals, aber ein Polizist sei als Mieter sehr willkommen. Könne er doch, quasi als Gegenleistung, ein wachsames Auge auf die politisch suspekten Elemente in der Siedlung werfen, die leider die doch eigentlich rechtschaffenen Bergleute immer wieder aufwiegelten. Da die Zechenverwaltung diese
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