Goldfasan
Tränen.
»Was gibt es zu essen?«, erkundigte sich Munder in einem Tonfall, der nichts mehr von seinem vorherigen Wutausbruch ahnen ließ.
»Ich habe noch nichts vorbereitet«, erwiderte seine Frau.
»Seit wann kümmerst du dich um die Zubereitung der Speisen? Das macht doch sonst immer Marta. Wo ist sie überhaupt?«
»Sie ist weg.«
Munder sah erstaunt auf. »Was heißt das: Sie ist weg?«
»Wie ich sagte. Sie ist verschwunden. Einfach so.«
»Weggelaufen?«
»Ich glaube schon.«
Walter Munder sprang auf. »Seit wann?«
»Ich habe sie vorgestern zum Schuster geschickt, um Schuhe abzuholen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Vorgestern? Warum hast du mich nicht informiert?«
»Du warst doch nicht da.« Ihre Stimme wurde wieder leiser.
»Aber es gibt doch Telefon! Du hättest mich sofort anrufen müssen.« Munder lief auf und ab, das Kognakglas in der Hand.
»Dich interessiert die Ostarbeiterin mehr als ich«, beschwerte sich seine Frau. Nun liefen doch Tränen über ihre Wangen.
»Blödsinn. Was sagt die Polizei?«
»Ich habe das Verschwinden noch nicht gemeldet.«
Entgeistert schüttelte Munder den Kopf. »Du sitzt hier herum, trinkst Kognak und eine Ostarbeiterin, für die ich die Verantwortung trage, macht sich aus dem Staub? Einfach so?«
»Kein Wunder, dass sie gegangen ist. So wie du sie behandelt hast.«
»Du machst mir Vorwürfe? Ausgerechnet du?« Er machte eine abwertende Handbewegung. »Hast du eigentlich eine Ahnung, welche Folgen das für mich haben kann? Auf dein Drängen habe ich mich bei meinen Vorgesetzten dafür starkgemacht, dass du ein Hausmädchen bekommst, obwohl uns keins zustand. Ich habe mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Vorschriften peinlichst genau befolgt werden. Und nun das! Du hättest ihr Verschwinden sofort anzeigen müssen. Unverzüglich!«
»Aber ich wusste doch nicht …«
»Ja, ja. Du weißt dies nicht, weißt das nicht … Zwei Tage! Diese Polin kann mittlerweile überall sein. Und ich bin dafür verantwortlich.« Munder ließ sich erneut in den Sessel fallen. »Das kann das Ende meiner Karriere bedeuten. Ich habe nicht nur Freunde in der Partei. Es gibt ein paar Leute, die warten nur auf einen solchen Fehler.«
Munder kippte den restlichen Kognak in einem Zug und schwieg nachdenklich. Schließlich fragte er: »Ist dein Vater eigentlich immer noch mit diesem Bochumer Kriminalrat befreundet?«
»Ja, warum?«
»Er muss uns helfen, die Angelegenheit diskret zu regeln.« Munder stand wieder auf. »Ich rufe ihn an.«
Sein Schwiegervater ging glücklicherweise gleich ans Telefon.
Munder erzählte ihm vom Verschwinden der Polin und schloss mit den Worten: »Natürlich muss ich den Vorfall noch heute zur Anzeige bringen. Doch könntest du mit deinen Kontakten dafür sorgen, dass der Fall auf dem kleinen Dienstweg behandelt wird und möglichst bald vom Tisch kommt?«
Für einige Sekunden war es ruhig in der Leitung.
»Hallo? Bist du noch da?«
»Natürlich. Ich habe nur überlegt. Warum rufst du nicht einfach den Kreisleiter an, gestehst das kleine Versäumnis und der Fall ist erledigt?«
»Ja, das wäre naheliegend. Aber unser Verhältnis ist in letzter Zeit etwas gespannt. Wenn er davon erfährt …«
»Verstehe. Du befürchtest, dass er dich mit seinem Wissen unter Druck setzen könnte.«
»Ja. Und nicht nur das. Vielleicht hat er nur auf einen solchen Fehler gewartet, um mich politisch kaltzustellen.«
»Was ist mit dem Gauleiter?«
»Nein, das ist mir zu riskant. Ich weiß nicht genau, wie er zu mir steht. Der Weg über deinen Bekannten bei der Polizei erscheint mir sicherer.«
»Wie du meinst. Wir werden Folgendes machen: Ich versuche jetzt sofort, meinen Freund zu erreichen. Danach melde ich mich wieder bei dir. Erst danach solltest du zur Polizei gehen und eure Ostarbeiterin als vermisst melden. Ich sage dir, wo du das am besten tust. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern.«
4
Montag, 29. März 1943
G loria Wupperbrück stand unmittelbar vor dem Gewinn der deutschen Fußballmeisterschaft gegen den FC Nord. Plötzlich stoppte der Filmvorführer den Projektor und die Notbeleuchtung des Kinos Alhambra wurde eingeschaltet.
»Luftalarm! Alle in den Bunker!«, rief jemand.
Erst jetzt nahm Lisbeth Golsten das Geheul der Sirenen wahr. Ihre Freundin Marianne Berger zog sie vom Sitz hoch und gemeinsam mit den anderen Zuschauern drängten sie zum Ausgang.
»So ein Mist«, meinte Marianne, als sie
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