Goldmarie auf Wolke 7
den Schal enger um Schultern und Hals und versuchte, mich gegen das Gefühl von Einsamkeit zu wehren, das irgendwo in meinem Bauch saß und langsam bis zum Herz wanderte. Auch bei den O’Noonans herrschte jetzt vermutlich geschäftiges Gewusel. Dylan hatte mir erzählt, dass sich an den Feiertagen sämtliche irische Verwandte die Klinke in die Hand gaben und die Wohnung eine Art offenes Haus war. Er und sein Großvater würden vierhändig Klavier spielen, Sophie mit hochroten Wangen Gedichte aufsagen und die jüngeren Brüder sich gegenseitig darin übertreffen zu demonstrieren, wie cool und erwachsen sie waren. Zum Essen gab es eine klare Suppe als Vorspeise, zum Hauptgang spiced beef mit Bratkartoffeln, Möhren und Pastinaken. Als Nachtisch dann Odelias Spezialität: Christmas Pudding. Für die Erwachsenen mit einem ordentlichen Schuss Irish Cream Whiskey drauf.
Ich war froh, als ich endlich auf der Reeperbahn angekommen war. Der dort herrschende Trubel vertrieb meine trüben Gedankenwolken zum Glück. Hier deutete fast nichts darauf hin, dass heute ein besonderer Tag der Ruhe, Innigkeit und Einkehr war. Ich bog Richtung Große Freiheit ab, mit dem Ziel St.-Josephs-Kirche.
Kaum hatte ich die schwere Eingangstür geöffnet, strömte mir auch schon der überwältigende Duft von Weihrauch und Tannennadeln entgegen. Die Christvesper hatte bereits begonnen, also schlüpfte ich auf einen freien Platz in der hintersten Bank.
Der Pfarrer erzählte gerade die Weihnachtsgeschichte. Meine Augen wanderten über die wundervollen Deckenmalereien und blieben schließlich an der prachtvollen Dekoration am Altar hängen. Als die Gemeinde das Kirchenlied Es ist ein Ros’ entsprungen anstimmte, hätte ich beinahe angefangen zu kichern. »Das heißt nicht Ross, sondern Ros’«, hatte Dylan mich korrigiert, als wir irgendwann einmal über dieses Lied gesprochen hatten. Bis zu diesem Tag hatte ich immer geglaubt, dass von einem Pferd die Rede gewesen war, und hatte nie darüber nachgedacht, dass der gesamte Text damit natürlich keinerlei Sinn ergab. Erst Dylan hatte mich darüber aufgeklärt, dass mit besagter Ros’ die Christrose gemeint war. Sein Blumenstrauß war natürlich eine kleine Anspielung auf unser Gespräch gewesen, das damit geendet hatte, dass wir uns unter Lachtränen sämtliche »Verhörer« aus der Kindheit erzählt hatten. Dylan hatte beim Titelsong der Serie Wickie und die starken Männer immer verstanden: »Sieh fest das Segel an«, anstatt: »Zieh fest...«
Als der Gottesdienst zu Ende war und die meisten Besucher die Kirche verlassen hatten, holte ich mir drei Kerzen, die ich nacheinander anzündete. Die erste stand für meine Eltern und mich, die zweite für Kathrin, Lykke, Julia und Nives. Die dritte für Dylan und seinen wilden irischen Clan. Das Jahr 2012 sollte uns allen – egal, wie wir zueinander standen – Zufriedenheit und Glück bringen …
53. Lykke Pechstein
(Sonntag, 25. Dezember 2011)
Zweite Rauhnacht – Erster Weihnachtstag
»Lass die Wunder in deinem Leben zu«
Merry X-Mas, dear diary,
ich wusste gar nicht, dass Liebe sooooooo schön ist! Mein Stift schwebt nur so über das Papier. Und während ich diese Zeilen schreibe, habe ich den kitschigsten aller Weihnachts-songs (Auch noch in der Version von Mariah Carey!) im Ohr: All I want for Christmas is you! Der Weihnachtsmann hat meinen größten Wunsch erfüllt und mir Sören geschenkt. Aber der Reihe nach: Als ich Freitagabend nach dem Kauf des Tannenbaums beim Schlachthof ankam, grinste Sören wie ein Honigkuchenpferd. »Guck mal, was ich da habe«, feixte er und zeigte mir die Fotos, die er mit seinem Handy gemacht hatte. Darauf waren zahllose Backzutaten der Drachenlady zu sehen, allesamt von den billigsten Discountern, die man sich nur vorstellen kann. Nix Qualität, nix Bio – alles ein riesengroßer Betrug! Während mir allmählich klar wurde, dass man Ludmilla wegen dieser Geschichte ins Gefängnis stecken könnte (Glaube ich zumindest, aber ich bin keine Juristin), wurde mir heiß und kalt. Sören war also tatsächlich eingebrochen und hatte verdammt Glück gehabt, dass er nicht erwischt worden war. Warum hatte er nicht gewartet, bis ich gekommen war? Ich glaube, ich hätte die Aktion im letzten Moment doch noch abgeblasen. Die Vorstellung, Sören nicht mehr wiederzusehen, weil einer von uns – oder wir beide (Aber getrennt!) – hinter Gittern sitzen würde, hat mich ganz schön fertiggemacht. Doch zum Glück stellte sich
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