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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Geschöpfe des Feuers, so wie es von den Menschen heißt, dass sie Geschöpfe der Erde sind. Und wie alle seine Artgenossen, von den widerlichen leichenfressenden Ghulen bis zu den trickreichen Ifrits, behielt er eine Gestalt nie sehr lange bei.
    Die Dschinn sind für gewöhnlich Einzelgänger, und dieser war es noch mehr als die meisten anderen. In jungen Jahren hatte er bei den wilden Ritualen und Luftscharmützeln der Dschinngesellschaft mitgemacht. Kleinere Beleidigungen oder Streitereien wurden zum Anlass genommen, um die Winde zu rufen und auf ihnen in die Schlacht zu ziehen, Clan gegen Clan. Die gigantischen Wirbelwinde, die sie verursachten, erfüllten die Luft mit Sand, und die anderen Wüstenbewohner suchten Zuflucht in Höhlen und im Windschatten großer Felsen, bis der Sturm vorüber war.
    Aber als er älter und reifer wurde, war der Dschinn mit diesem Zeitvertreib nicht mehr zufrieden und machte es sich zur Gewohnheit, allein die Wüste zu durchstreifen. Er war von Natur aus neugierig – auch wenn nichts seine Aufmerksamkeit lange fesseln konnte – und flog mit dem Wind nach Westen bis in die libysche Wüste und nach Osten bis zu den Ebenen von Isfahan. Dabei riskierte er mehr, als vernünftig war. Sogar in der trockensten Wüste konnte unverhofft ein Regenschauer niedergehen, und ein vom Regen überraschter Dschinn war in Lebensgefahr. Denn gleichgültig, was für eine Form ein Dschinn annahm, ob Mensch oder Tier oder seine wahre gestaltlose Gestalt, er blieb immer ein lebender Feuerfunken, der leicht ausgelöscht werden konnte.
    Aber ob nun Glück oder sein Geschick ihn leitete, der Dschinn wurde nie erwischt und streifte herum, wo immer er wollte. Er suchte auf seinen Ausflügen nach Silber- und Goldadern, denn die Dschinn sind geborene Kunstschmiede, und dieser war besonders talentiert. Er konnte Gold und Silber zu haarfeinen Drähten oder Platten oder gewundenen Strängen verarbeiten. Das einzige Metall, das er nicht berühren durfte, war Eisen. Wie alle seiner Art hatte er schreckliche Angst vor Eisen und scheute vor Felsen mit Eisenerzadern zurück wie ein Mensch vor einer giftigen Schlange.
    Man kann ewig durch die Wüste wandern, ohne einem anderen intelligenten Wesen zu begegnen. Aber die Dschinn waren alles andere als allein, denn seit Tausenden von Jahren lebten sie in der Nachbarschaft von Menschen. Da waren die Beduinen, die nomadischen Hirtenstämme, die ihre bescheidene Existenz dem wenigen verdankten, das die Wüste zu bieten hatte. Und weit im Westen und Osten befanden sich Städte, die von Jahr zu Jahr wuchsen und Karawanen durch die Wüste schickten. Doch obwohl sie Nachbarn waren, hegten Menschen und Dschinn ein tiefes Misstrauen gegeneinander. Die Furcht der Menschen war vielleicht größer, denn die Dschinn konnten sich unsichtbar machen und verwandeln. Bestimmte Wasserstellen und Höhlen und mit Felsbrocken übersäte Pässe galten als Wohnorte der Dschinn, und sich ihnen zu nähern hieß, Unglück heraufzubeschwören. Die Beduinenfrauen steckten ihren Babys Amulette aus Eisenperlen an die Kleidung, um zu verhindern, dass ein Dschinn in sie fuhr oder sie entführte und zu Wechselbälgern machte. Angeblich hatte es einst Zauberer gegeben, Männer von großem und gefährlichem Wissen, die Dschinn befehlen und kontrollieren und sie in Lampen oder Flaschen gefangen halten konnten. Diese Zauberer, so die Geschichtenerzähler, gab es schon lange nicht mehr, und von ihrer Macht war nur die Andeutung eines Schattens geblieben.
    Aber das Leben der Dschinn war sehr lang – acht- oder neunmal so lang wie das der Menschen –, und ihre Erinnerung an die Zauberer war noch nicht vollkommen verblasst. Die älteren Dschinn warnten vor Begegnungen mit Menschen und nannten sie hinterhältig und perfide. Das verlorene Wissen der Zauberer, so mahnten sie, konnte wiedergefunden werden. Besser war es, vorsichtig zu sein. Und so begegneten sich die zwei Arten nur selten, für gewöhnlich nur, wenn die minderen Dschinn, die Ghule und Ifrits, die immer Unfug im Sinn hatten, es provozierten.
    Als Jugendlicher hatte der Dschinn auf die Warnungen der Älteren gehört und war vorsichtig gewesen. Er hatte die Beduinen und Karawanen gemieden, die sich langsam durch die Wüste bewegten unterwegs zu den Märkten von Syrien und Dschasira, Irak und Isfahan. Aber als er eines Tages am Horizont eine Reihe von zwanzig oder dreißig Männern sah, ihre Kamele mit wertvollen Waren beladen, fragte er sich, warum er

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