Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
lang gewesen, und als er in seinem Palast ankam, hatte sich eine seltsame Einsamkeit seiner bemächtigt. Vielleicht hatte sie etwas mit der Karawane zu tun. Er hatte sich an die Gespräche, die Lieder und Geschichten der Reisenden gewöhnt, aber er gehörte nicht dazu. Vielleicht war es zu lange her, dass er sich bei seinen Artgenossen aufgehalten hatte. Er beschloss, keine Karawanen mehr zu verfolgen, zu seinem Clan zurückzukehren und eine Weile dort zu bleiben. Vielleicht würde er sich sogar weibliche Gesellschaft suchen, eine Dschinniya, die sich seine Aufmerksamkeiten wünschte. Er war bei Sonnenuntergang in seinem Palast angekommen und hatte vorgehabt, am nächsten Morgen aufzubrechen – und da endeten seine Erinnerungen.
Danach durchbrachen nur zwei Bilder den Nebel. Im ersten legten die knorrigen braunen Hände eines Mannes die eiserne Fessel um sein Handgelenk, und dieses Bild wurde begleitet vom Eindruck eisiger Kälte und unermesslicher Angst, die natürliche Reaktion eines Dschinns auf Eisen – aber warum, so fragte er sich, verspürte er sie jetzt nicht? Und dann das zweite Bild: das ledrige Gesicht eines Mannes, aufgesprungene Lippen grinsten, die hervortretenden gelben Augen blickten triumphierend.
Hexer
, sagte ihm sein Gedächtnis. Und das war alles; im nächsten Augenblick lag er nackt und gefesselt auf dem Boden von Arbeelys Werkstatt.
Nur dass nicht bloß ein Augenblick vergangen war. Offenbar war er über tausend Jahre in der Flasche gefangen gewesen.
Arbeely hatte diese Zahl ausgerechnet, während er nach Kleidern für seinen nackten Gast suchte. Er hatte den Dschinn hartnäckig nach seinen Erinnerungen an die Welt der Menschen ausgefragt, um das Jahr seiner Gefangennahme annähernd bestimmen zu können. Nach ein paar Fehlstarts hatte sich der Dschinn an die Wachen der Karawane erinnert, die über die Große Moschee sprachen, das neue Gebäude in al-Scham. »Sie haben gesagt, dass in der Moschee der Kopf eines Mannes ist, aber nicht sein Körper«, sagte er. »Das kam mir unsinnig vor. Aber vielleicht habe ich es auch falsch verstanden.«
Doch Arbeely versicherte ihm, dass er richtig gehört hatte. Der Kopf gehörte einem Mann namens Johannes der Täufer, und die Moschee kannte man als Umayyaden-Moschee, und sie stand jetzt seit über tausend Jahren in der Stadt al-Scham.
Das schien unmöglich. Wie konnte er so lange Zeit eingesperrt gewesen sein? Dschinn lebten selten länger als achthundert Jahre, und er war schon auf die zweihundert zugegangen, als er begann, den Karawanen zu folgen. Aber seltsamerweise war er nicht nur äußerst lebendig, er fühlte sich zudem keinen Tag älter als zuvor. Als habe die Flasche nicht nur seinen Körper aufbewahrt, sondern auch die Zeit angehalten. Er vermutete, dass Zauberer auf diese Weise die Nützlichkeit ihrer Gefangenen so lange wie möglich strecken konnten.
Die Flasche stand nun auf einem Regal in Arbeelys Laden. Genau wie die Eisenfessel verriet sie nicht, wer sie gefertigt hatte. Arbeely hatte ihm die teilweise zerstörten Verzierungen rund um den Flaschenboden gezeigt, anscheinend eine Art magischer Verschluss, der ihn in der Flasche festgehalten hatte.
Aber wie hast Du bloß zusammen mit dem Olivenöl da hineingepasst?
, hatte Arbeely gefragt, ein Rätsel, das den Dschinn sehr viel weniger interessierte, als die Frage, wie er es überhaupt hatte zulassen können, dass er gefangen genommen und in menschliche Gestalt gebannt wurde. Vielleicht war ihm der Hexer zu seinem Clan gefolgt, oder er hatte ihm eine Falle gestellt. Er fragte sich, ob der Mann ihn wie einen von Suleimans Sklaven behandelt und ihn gezwungen hatte, Vergnügungspaläste zu bauen und auf Befehl seine Feinde abzuschlachten. Oder hatte der Zauberer ihn einfach vergessen, wie ein wertloses Schmuckstück, das seinen Reiz verliert, sobald man es besitzt?
Natürlich war der Mann mittlerweile tot. Die legendären Zauberer waren mächtig, aber dennoch sterblich gewesen. Der gelbäugige Mann war längst zu Staub zerfallen. Und mit welchem Zauber er den Dschinn auch belegt hatte, sein Tod hatte ihn nicht aufgehoben. Langsam schlich sich ein schrecklicher Gedanke in seinen Kopf: Womöglich wäre er für den Rest seines Lebens in einem Menschenkörper gefangen.
Nein. Er verscheuchte den Gedanken. Er würde seine Niederlage nicht einfach so hinnehmen.
Er blickte auf das Eisengeländer, fasste mit beiden Händen danach und konzentrierte sich. Er war erschöpft; die Gefangenschaft in
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