Goliath: Roman (German Edition)
ausgesucht hatte.
Diesmal hatte die »Kommission« Gunnar Wolfe im Visier.
Es ist ungewöhnlich, dass die Aryan Brotherhood sich mit Weißen anlegt, aber in jenem Jahr war das Verhältnis zwischen der AB und der Gang der Muslims besonders gespannt. Da die selbst ernannten Vertreter der »arischen Rasse« zahlenmäßig weit unterlegen waren, hatten sie kein Interesse an einem Krieg, sie hatten sich nur entschieden, dem elenden Schicksal des Army-Burschen selbst ein Ende zu machen, bevor ihre schwarzen und hispanischen Rivalen ihn in die Finger bekamen.
Man wollte ihn also aus purer Güte umbringen.
Die Augen des Dschungels beobachteten Gunnar, als er ziellos über den Hof wanderte. Seine Gedanken überschlugen sich, seine Psyche war nicht in der Lage, sich mit der plötzlichen Realität einer Gefängnisstrafe abzufinden, die zu ungerecht war, um sie zu akzeptieren, und zu lang, um vorstellbar zu sein. Als Barnes sich ihm näherte, wichen die anderen Gefangenen instinktiv zurück und überließen den Neuen seinem Schicksal.
Die Waffe in Barnes’ Hand bestand aus einem zwanzig Zentimeter langen Metallstück, das erfinderisch und mit großer Geduld dem Gehäuse eines Radios entnommen worden war. Das eine, an Betonwänden geschliffene Ende war rasiermesserscharf und spitz, das andere hatte man mit Stoff umwickelt, um einen guten Griff zu haben.
Abwesend, wie er war, sah Gunnar den Angreifer nicht kommen. Erst als die Klinge in seinen unteren Rücken eindrang, nur wenige Millimeter von einer Niere entfernt, regte sich sein in vielen Kämpfen geschulter Instinkt.
Ohne auf einen Schmerz zu achten, der jeden anderen gelähmt hätte, wirbelte Gunnar herum, um seinem Angreifer in die Augen zu blicken. Dann schlang er den linken Arm um beide Arme von Barnes, presste sie ihm mit eisernem Griff an den Leib, schmetterte ihm den Handballen seiner freien Hand ins Gesicht und brach ihm Nasen- und Stirnbein.
Gunnar widerstand der Versuchung, seinem Gegner den Kehlkopf zu zerschmettern und entschied sich stattdessen, ihm den Schuh seitlich ans rechte Knie krachen zu lassen, dessen Bänder zerrissen und sich vom Knochen trennten. Damit wurde der Mann, der ihn fast ermordet hatte, zum Krüppel.
Von diesem Tag an trat man dem ehemaligen Ranger als einem Mithäftling gegenüber, der Respekt verdiente.
Nach einer Woche auf der Krankenstation kam Gunnar zwanzig Tage ins Loch, wie es der Vorschrift entsprach.
Nackt in völliger Dunkelheit hockend, dachte er über die Heuchelei seines Lebens nach.
Wer bin ich?
Ich bin ein Sohn, den sein Vater verachtet. Ich bin ein Mann, den die Frau, die er liebt, verabscheut. Ich bin ein Narr, den sein bester Freund hintergangen hat. Ich bin ein Amerikaner, den sein eigenes Land eingekerkert hat. Ich bin ein Soldat, den man gezwungen hat, Kinder zu töten.
Ich bin nur ein Stück Fleisch. Ich bin Abschaum. Ich bin ein wandelnder Leichnam, der darauf wartet, begraben zu werden, damit Gott ihn richten kann.
Ich bin eine Insel.
Ich habe kein gutes Leben geführt und verdiene, bestraft zu werden. Ich habe es zugelassen, dass man mich benutzt hat. Ich habe meine Eltern betrogen und mich selbst.
Ich habe Gott betrogen.
Schuld und Selbstverachtung brannten tief in Gunnars Seele und verdrängten jedes andere Gefühl. Er dachte daran, sich umzubringen, doch davor hatte er Angst.
Es war nicht der Tod, wovor er sich fürchtete, denn den hätte er als Ende seiner Qualen willkommen geheißen. Was dem einstigen Bauernjungen aus Pennsylvania Angst machte, war der Gedanke, nackt und bloß vor Gott zu stehen und nichts vorweisen zu können als seine Sünden.
Doch obgleich er Gott fürchtete, war Gunnar nicht religiös. Er glaubte nicht an die Kraft der göttlichen Vergebung. Er allein war für seine Handlungen verantwortlich, und er allein konnte sich von seinen Sünden freisprechen. Deshalb musste er irgendwie einen Weg finden, sich zu reinigen und seine Verbrechen wiedergutzumachen.
Aber nun musste er erst einmal überleben.
So härtete Gunnar Wolfe sich innerlich ab, indem er seine gesamte Wut, Angst und Reue in ein mentales Schließfach steckte und den Schlüssel wegwarf. Er weigerte sich, zu erscheinen, als der »Bear« ihn besuchen wollte, und er nahm keinerlei Post entgegen. Den Mund machte er nur auf, wenn die Wärter ihn ansprachen. Falls er sich nicht gerade mit den Hanteln und Kraftmaschinen stählte, schritt er mit finsterem Blick über den Hof.
Bald verbreiteten sich allerhand Gerüchte
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