Gondeln aus Glas
seine Tatortfotos jetzt im Kasten hatte. Tron glaubte sich daran zu erinnern, dass Bossi diese Wendung benutzt hatte.
Er stand auf, und der Junge erhob sich ebenfalls höflich – wobei er anmutig mit der Hüfte schlenkerte.
Ein Punkt war noch zu klären. Tron sah den Jungen an, der kontrapostmäßig (Standbein-Spielbein) neben dem Tisch verharrte. «Und wie war Ihr …», Tron zögerte, weil er nicht wusste, wie er sich ausdrücken sollte, «… persönliches Verhältnis zu Signor Kostolany?»
Der Junge grinste schief. Er schien die Frage erwartet zu haben. «Nicht so persönlich, wie es sich Kostolany gewünscht hätte.»
Tron runzelte die Stirn. «Er hat Sie, äh …»
Der Junge schüttelte den Kopf. «Nicht bedrängt, nein. Aber er hat durchblicken lassen, dass er bereit gewesen wäre, mein Salär unter bestimmten Umständen zu erhöhen.»
Ein Geschäft, auf das der Junge sich offenbar nicht eingelassen hatte. Allein sein Anblick, dachte Tron, dürfte ausgereicht haben, Kostolany um den Finger zu wickeln.
«Wir müssen Sie leider bitten, Venedig nicht zu verlassen», sagte er.
«Das hatte ich ohnehin nicht vor, Commissario.»
Tron wandte sich zur Tür, und einen Augenblick lang konnte er den verschleierten Blick des Jungen in seinem Rücken fast körperlich spüren.
Vielleicht sollte er Bossi das Alibi des Jungen überprüfen lassen. Diesen Schaffner aufzutreiben dürfte kein Problem für den Sergente sein.
Als Tron den Verkaufsraum wieder betrat, war Sergente Bossi gerade damit beschäftigt, das letzte von drei hölzernen Stativbeinchen zusammenzuklappen, um sie in einem dafür vorgesehenen Behältnis zu verstauen. Jedes einzelne fotografische Gerät, hatte Tron bemerkt, war in einem eigenen hölzernen Kasten untergebracht, in welchem es – wie Duellpistolen – auf einem roten Samtbett ruhte. Die Kamera war bereits verpackt. Neben dem Wassertor stand eine große Kiste aus poliertem Mahagoniholz mit Griffen aus Messing, davor eine kleinere Kiste, in der, wie Bossi vorhin angemerkt hatte, die belichteten Platten verstaut wurden.
«Gelatine-Trockenplatten», sprach der Sergente mit stolzgeschwellter Stimme.
«Wie bitte?»
Bossi setzte dasselbe priesterliche Gesicht auf, mit dem er auch Wörter wie Indizienkette aussprach. Er sagte: «Das vereinfacht den ganzen Vorgang ungeheuer, Commissario. Beim nassen Kollodiumverfahren müsste ich immer eine tragbare Dunkelkammer mit mir führen.»
Na, bitte. Nasses Kollodiumverfahren – alles klar.
Tron nickte, ohne ein Wort zu verstehen. Das alles war eine wunderbare Gelegenheit für den Sergente, ihn mit Fachausdrücken zu bombardieren.
«Hat Manin noch etwas gesagt?», erkundigte sich Sergente Bossi. Er warf einen zärtlichen Blick auf das Behältnis mit den Gelatine-Trockenplatten.
Tron sagte: «Er hat einen gewissen Valmarana erwähnt, mit dem es Streit wegen einer Zeichnung gab. Der hat Kostolany vor drei Tagen damit gedroht, ihm den Hals umzudrehen.»
Bossis Augen leuchteten auf wie zwei Positionslichter.
«Es gibt also eine heiße Spur.» Tron fragte sich, wie der Sergente es schaffte, zu dieser unchristlichen Uhrzeit so munter zu sein. «Ist bekannt, wo dieser Valmarana wohnt, Commissario?» Bossi rieb sich tatendurstig die Hände.
Wie? Hatte der Sergente etwa die Absicht, Valmarana noch heute Nacht einen Besuch abzustatten?
Tron warf einen ostentativen Blick auf seine Repetieruhr und gähnte.
«Um den kümmern wir uns morgen», sagte er.
4
Vor zwanzig Jahren mochte die Contessa Valmarana eine schöne Frau gewesen sein, und noch heute waren alle Zutaten vorhanden: Ihre Augen standen weder zu eng noch zu weit, sie war schlank, und ihre Wangenknochen waren hoch und vornehm. Aber ihr Haar, das früher blond gewesen sein mochte, hat te sich in ein stumpfes Mausgrau verwandelt, ihre Bewegungen waren matt und kraftlos. Ein inkommodierter Ausdruck lag wie eine Maske auf ihrem Gesicht.
«Der Conte ist nicht da», sagte sie zu Tron und Bossi, die auf zwei zerschlissenen Fauteuils Platz genommen hatten. Der Salon, in dem sie saßen, war klein, hatte eine feuchte Decke und war voll gestopft mit Möbeln, die selbst bei den Trons auf dem Müll gelandet wären.
«Aber vielleicht», fuhr die Contessa Valmarana fort, indem sich ihre verdrossene Miene verstärkte, «kann ich Ihnen behilflich sein.» Ob ihr Gesichtsausdruck auf die Abwesenheit des Gatten, eine Krankheit oder auf den ruinösen Zustand ihres Palazzo zurückzuführen war, ließ sich schwer
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