Gondeln aus Glas
richtig. Die völlig verregnete Romreise, die er vor mehr als vierzig Jahren mit seinem Vater unternommen hatte. Sie waren bei Verwandten in einer am Tiberufer gelegenen Villa untergekommen, und Tron hatte, während sein Vater seinen Geschäften nachging, die meiste Zeit in der Erdgeschossloggia verbracht und gelesen. Und wenn er nicht las, an die Decke gestarrt, auf der eine mythologische Hochzeit prangte, die auf der rechten oberen Ecke von drei sich nach links neigenden Grazien bevölkert wurde. Speziell die mittlere der drei Grazien hatte es ihm damals angetan – vielleicht weil sie erotische Phantasien bei ihm ausgelöst hatte. Erst Jahre später hatte Tron erfahren, dass es sich bei der Villa um die berühmte Farnesina gehandelt hatte – und welche illustren Namen an der Ausmalung des Gebäudes beteiligt gewesen waren.
Tron hatte keinen Zweifel – die Rötelzeichnung, die vor ihm auf dem Tisch lag, war nichts anderes als eine Vorzeichnung aus der Hand Perino del … Nein – nicht Perino del Vagas. Der hatte zwar auch in der Farnesina gemalt, aber nicht in der Loggia. Die Hochzeit mit den drei Grazien stammte von …
Mein Gott, natürlich. Er hätte sofort darauf kommen müssen. Es war so einfach.
«Die Zeichnung ist von Raffael», sagte Tron knapp.
Nach dieser Mitteilung trat ein ehrfürchtiges Schweigen ein. Das hatte er auch verdient, fand Tron.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Contessa Valmarana erstarrte und Bossi die Luft anhielt. Da es zu seinen Grundsätzen gehörte, immer das momentum zu nutzen, nahm Tron seinen Kneifer von der Nase, hielt ihn wie eine Lupe über die Zeichnung und sagte: «Sie ist wahrscheinlich in Rom entstanden.»
Jetzt schwiegen die Contessa Valmarana und Sergente Bossi vor Ehrfurcht um die Wette. Ob die beiden wohl ins Koma fallen würden, wenn er jetzt noch das Blatt datierte? Nur wann, zum Teufel, war Raffael gestorben? Er drehte das Blatt vorsichtig um, aber auf der Rückseite waren nur zwei Buchstaben zu erkennen, die wie ein C und ein I aussahen. Handelte es sich vielleicht um eine römische Jahreszahl?
Nein – ein Datierungsversuch war zu riskant. Also beschränkte sich Tron darauf, kennerisch den Kopf zu wiegen und zu bemerken: «Das Blatt dürfte ein Vermögen wert sein.»
Diese Feststellung bewirkte eine unerwartete Reaktion bei der Contessa Valmarana. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und klatschte – rums! – ihre Hand auf die Raffael-Zeichnung, so als wäre es die Gazetta di Venezia von gestern. Dann lachte sie bitter auf. Ihre Augen waren nicht mehr milchgrau, sondern glänzten wie Stahlsplitter. «Es hat nur einen entscheidenden Fehler.»
Einen Fehler? Tron runzelte irritiert die Stirn.
Doch dann begriff er. Es lag auf der Hand. Niemand, der bei Verstand war, würde auf den Gedanken kommen, eine Raffael-Zeichnung so zu behandeln wie die Contessa Valmarana. Schon die rüde Art und Weise, in der sie das Blatt unter dem Buch hervorgezerrt hatte, hätte ihn stutzig machen müssen. Es gab nur eine einzige Erklärung dafür.
Tron hielt seinen Kneifer zum zweiten Mal über die Zeichnung. Außer ein paar Lichtreflexen war auch diesmal nichts zu erkennen. «Sie haben Recht», sagte er, nachdem er eine Weile mit ernster Miene auf die Lichtreflexe gestarrt hatte. «Ich hätte mich fast getäuscht.» Er drehte seinen Kopf und lächelte. «Es handelt sich offenbar um eine Fälschung.»
Wieder landete die Hand der Contessa – rums! – auf der Zeichnung. «So ist es, Commissario.»
«Und was hat das alles mit Kostolany zu tun?»
«Sehr viel.» Die Contessa Valmarana lächelte eiskalt. «Das Original befindet sich im Palazzo da Lezze», sagte sie. «Und genau das ist der Grund, aus dem Ercole gesagt hat, dass man Kostolany den Hals umdrehen sollte.»
«Ich verstehe Sie immer noch nicht.»
Die Contessa Valmarana seufzte. «Es ist ganz einfach, Commissario. Wir haben Kostolany die Zeichnung vor drei Wochen zum Kauf angeboten. Selbstverständlich ein Original. Er hatte darum gebeten, sie in Ruhe prüfen zu können.»
«Was sich hingezogen hat.»
Die Contessa nickte. «So ist es. Dann hat er uns das Blatt vor einer Woche zurückgegeben, mit der Begründung, dass es sich um eine Fälschung handele.»
Womit er, überlegte Tron, vielleicht nicht ganz Unrecht hatte. Die Frage war nur, ob die Contessa Valmarana das auch zugeben würde. Tron versuchte, einen verständnisvollen Ton in seine Stimme zu legen. «Sind Sie ganz sicher, dass das Blatt, das
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