Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
marschieren würde, aber natürlich war er nie gekommen – zumindest nicht in die Kinderherzchirurgie. Irgendwann hatte ich angefangen, Chinatown nach ihm abzusuchen. Ich kannte seine einstigen Lieblingsplätze und fand immer einen Vorwand, sie aufzusuchen. Auf dem Klingelschild seiner früheren Wohnung stand jetzt ein anderer Name, er musste also umgezogen sein. Nach
allem, was ich ihm angetan hatte, hätte ich sowieso nicht gewagt, ihm direkt gegenüberzutreten. Also verhielt ich mich auf meinen Streifzügen möglichst unauffällig.
Einmal sah ich ihn tatsächlich. Es war spät am Abend, als ich ihn plötzlich wenige Meter entfernt im Getümmel erspähte und in einen Brautmodenladen gehen sah. Obwohl ich ihn nur eine Sekunde von hinten gesehen hatte, war ich mir sicher, dass er es war. Ich folgte ihm und hörte, wie ihn eine Frauenstimme begrüßte. Als ich an das beleuchtete Schaufenster trat, sah ich ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen unter einer Schaufensterpuppe sitzen. War das seine Tochter? Jetzt wusste ich wieder, warum ich Matt vor all den Jahren angelogen hatte. Um unser Kind vor dem Schicksal dieses reizenden kleinen Mädchens zu bewahren. Aber woher wollte ich denn wissen, dass sie ihre Zukunft nicht auch eines Tages in die eigene Hand nehmen würde? Weil ich das getan hatte, war Vivian ein ganzes Leben mit meinem Matt geschenkt worden, in dem sie jeden einzelnen Tag mit ihm verbringen durfte.
Und dann stand er plötzlich in der Tür zum Ladenraum. Das kleine Mädchen sprang auf und rannte zu ihm, und er schloss es lachend in die Arme. Ich machte schnell einen Schritt zurück, damit er mich nicht sah. Aus Angst, mir könnten die Beine versagen, wenn ich noch länger dort stehen blieb, ging ich davon und ließ Matt in dem Laden zurück. Ich wagte es nicht zurückzukehren und sein glückliches Leben zu stören.
Es war früh am Samstagmorgen, und ich hatte meine Motorradkluft gar nicht erst ausgezogen, weil ich nur in der Klinik war, um mich nach dem Befinden eines kleinen Patienten zu erkundigen: ein Neugeborenes, das ich am Vorabend operiert
hatte. Das kleine Mädchen hatte die Nacht überlebt, und ich wechselte ein paar Worte mit den Eltern, die auf der Intensivstation warteten.
Auch nach all den Jahren empfinde ich immer noch tiefe Ehrfurcht, wenn ich das Skalpell in die Hand nehme. Meine Patienten sind oft winzig, manche atmen erst seit wenigen Tagen unsere gemeinsame Luft. Und da liegen sie dann vor mir im OP, wo mein Können über Leben und Tod entscheidet, und das flößt mir großen Respekt ein. Ich versuche an das Schicksal zu glauben, versuche mich nach gescheiterten Operationen damit zu trösten, dass es eben aussichtslose Fälle gibt. Dann liege ich nachts allein im Bett und gehe die Operation im Geiste noch einmal durch, frage mich, warum ausgerechnet dieses Kind sterben musste und ob ich den Tod vielleicht durch einen Fehler beschleunigt habe. Mein Beruf verlangt von mir ständige Perfektion. Vielleicht habe ich mich deshalb für diese Arbeit entschieden: damit mich der unaufhörliche Anspruch, unfehlbar zu sein, taub macht für die Ansprüche meines eigenen Herzens.
»Hätten Sie auch eine Minute Zeit für mich, Doc?«
Es war Matts Stimme, die auf Englisch vom Gang hereinschallte. Wie er da plötzlich leibhaftig vor mir stand, in T-Shirt und Jeans, und mich mit seinen goldenen Augen ansah, von denen ich so oft geträumt hatte, schwoll mir das Herz in der Brust, und ich glaubte, vor Freude sterben zu müssen.
Ich sah, wie er mich musterte. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Kimberly.«
Eine Glückswelle durchströmte mich, und ich senkte schnell den Kopf, um mein rotes Gesicht zu verbergen. Verlegen schob ich den Motorradhelm von einer Hand in die andere. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu und sah, dass er tatsächlich älter geworden war: Statt des Jungen, den ich
gekannt hatte, stand ein echter Mann vor mir. Die Muskeln an seinen Schultern und Armen waren steinhart von jahrelanger körperlicher Arbeit, und der feste Blick verriet, dass er sehr genau wusste, wer er war.
Jetzt sprach er chinesisch: »Ich war mir nicht sicher, ob ich dich heute überhaupt hier antreffe.«
»Eigentlich habe ich auch gar keinen Dienst. Ich bin nur hier, um nach einer Patientin zu sehen. Komm mit, lass uns in mein Büro gehen.«
Der Weg durch die Klinikflure fühlte sich elektrisierend an mit Matt an meiner Seite. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und
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