Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
deshalb hat Robert gesagt, er wolle sich von seinem Freund, demselben, der ihm den Hochzeitsanzug geborgt hat, ein Auto leihen und nach Washington fahren, um mich dort abzuholen. »Die Passagiere werden gebeten, sich zur Zollabfertigung zu begeben.«
    »Jetzt schon?«, fragt Mama und sieht sich mit ihrem üblichen wachsamen Vor-Aufbruchs-Blick um, als wären wir von zahllosen Einkaufsnetzen umgeben. »Es ist doch noch so früh   …«
    »Also, dann geh lieber«, sagt Marina. »Wer weiß, wie lange diese Dreckskerle brauchen, um dein Gepäck zu durchwühlen.«
    Gris nimmt meinen Koffer, legt einen Arm um mich und drückt seine Wange an mein Ohr. »
Schtschastliwo «
, sagt er, entlässt mich aus seiner Umarmung und zwinkert mir zu. »Viel Glück. Finde heraus, wie es dort tatsächlich ist.«
    Ein spanischer Student, der zu einer Gruppe von Gaststudenten gehört und dessen Körperumfang durch seinen Rucksack verdoppelt wird, versetzt Marina einen Stoß, als sie mich gerade umarmt. Die Wucht überträgt sich auf mich in Form einer noch innigeren Umarmung, eines noch festeren Kusses. Ich drücke mein Gesicht in ihr Haar, das im Licht schimmert und von derselben Farbe ist wie die Aprikosenmarmelade, die |407| sie einst von einer Theatertournee nach Armenien mitgebracht hat. »Schreib uns«, sagt sie.
    Ich betrachte Mamas verknittertes Gesicht und erhasche ihren Blick, der so offen ist wie eine frische Wunde. Sie macht einen Schritt auf mich zu, und ich schmiege mich an ihre feuchte Wange. Sie duftet nach Küche und Pilzen, derselbe vertraute Duft wie Jahre zuvor, als ich mich beim Pilzesuchen im Wald verirrt habe, als das Knirschen ihrer Schritte mich in die Geborgenheit ihrer Umarmung geführt hat.
    »
Pischi «
, flüstert sie, »versprich, oft zu schreiben.« Tränen steigen in ihre Augen, laufen über ihre Wangen. »Hast du auch nichts vergessen?«, fragt sie schluckend und blinzelnd. »Hast du den Schal eingepackt, den ich dir rausgelegt habe?« Sie wischt mit einem Finger unter ihren Augen entlang, faltet ihre warmen Hände um die meinen, und ich fühle, wie etwas Kleines, Schweres in meine Handfläche gleitet. »Nimm das mit. Es ist die Uhr deiner Großmutter, reines Gold, aus Frankreich. So etwas wird nicht mehr hergestellt.«
    Ich weiß, dass laut Gesetz nichts aus dem Land geschafft werden darf, das vor 1957 hergestellt wurde, aus einem anderen Land stammt oder aus Gold ist. Doch in diesem Moment ist das Gesetz genauso bedeutungslos wie die Gaststudenten mit ihrem Maschinengewehr-Spanisch. Ich halte die Uhr in meiner Hand und lasse sie in die Tasche meiner Jeans gleiten.
    »Wir werden dich besuchen«, sagt Gris. »Erst schicken wir Mama, sobald sie mit der Datscha und ihrer Apfelmarmelade fertig ist. Danach ist Marina an der Reihe, und dann werden wir alle kommen, und du wirst nicht mehr wissen, wie du uns wieder loswerden sollst.«
    »Ja«, sage ich und lächle Mama zu. »Ich werde gleich nach der Landung mit dem Papierkram beginnen.«
    Die Strömung der Studentengruppe erfasst mich und reißt |408| mich mit zur Glastür, der Grenze zwischen uns und der restlichen Welt. Dahinter macht sich ein Zollbeamter in grauer Uniform mit mechanischen Bewegungen daran, meine Tasche zu durchwühlen. Ich kenne ihn aus den Vorlesungen im Abschlussjahr. Er wickelt Stück für Stück meine Parfümflakons aus, hält sie ins Licht und betrachtet sie starr. Er öffnet mein Portemonnaie und zählt mein Geld. Er blättert mein Adressbuch durch. Ein Hochschulabsolvent, der Gepäck filzt. Er erkennt mich nicht, oder zumindest tut er so. Während ich das Metall der Uhr an meinem Oberschenkel spüre, sehe ich ihm in die Augen, die abgestumpften KG B-Augen , in deren Macht es steht, meinen unzuverlässigen Kopf mit Blicken zu durchbohren, mir unpatriotisches, verbrecherisches Verhalten vorzuwerfen und mich zum Hierbleiben zu zwingen, solange ich mich im internationalen Bereich des Flughafens befinde. Wir starren einander an, bis er den Blick abwendet   – ein Germanist, der damit beschäftigt ist, in Unterwäsche und Socken zu wühlen   – und meinen geschändeten Koffer vom Laufband stößt.
    Als ich alles wieder verpackt habe, drehe ich mich noch einmal zu der Menschentraube vor der Glastür um. Nina winkt mir über den Kopf meiner Mutter hinweg heftig zu. Neben ihr steht Gris, die Kappe in die Stirn gezogen, die Hände in den Hosentaschen. Marina versucht, sich vor den Wachmann zu drängeln, indem sie ihn mit der Schulter

Weitere Kostenlose Bücher