Goodbye Leningrad
dann in einem so herzzerreißenden Kreischen zu kollabieren, dass sämtliche Zuhörer, einschließlich derer, die wie ich völlig unmusikalisch sind, gleichzeitig die Luft anhielten.
Ich bleibe vor dem ›Oktober‹-Plakat stehen, auf dem derselbe Sänger zu sehen ist, den ich siebzehn Jahre zuvor gehört |399| habe. Ich stellte mir damals vor, wie schrecklich es für ihn gewesen sein musste, vor den vierundzwanzig Reihen im Parkett, den vier Rängen und der ehemaligen Zarenloge zu stehen und in nur einer Sekunde den entscheidenden Moment in Lenins Leben und der Sache der Revolution ruiniert zu haben.
Ich betrachte das Plakat: derselbe blamierte Sänger, dasselbe entehrte Land.
Mein Koffer liegt offen auf dem Sofa, darin ein Paar neue Sandalen zwischen zwei Blusen, die Marina für mich gehäkelt hat. Die eine ist grün, die andere lila, es waren die einzigen Garnfarben, die sie in den Läden auftreiben konnte. Tagelang hat Marina vornübergebeugt am Fenster gesessen und daran gearbeitet, während sie mit einem winzigen Metallhaken aufwendige Muster aus Blättern und Blumen zauberte. Ich habe in all den Jahren zugesehen, wie sie Kleidungsstücke umgeändert hat – wie sie eine alte Hose in einen Flickenrock verwandelt oder das Futter einer Jacke, die in der Mottenkugelfinsternis des Stauraums über dem Kühlschrank lag, herausgetrennt und daraus eine Seidenbluse genäht hat –, ohne je auch nur zu ahnen, dass ihre Hände eine derart komplizierte Eleganz zu zaubern vermögen.
»Sie sind wunderschön«, sage ich. »Es ist ungerecht, dass ein einziger Mensch so viele Talente besitzt.«
Ich öffne den Schrank und starre auf die von Bügeln herabhängenden Kleidungsstücke, von denen kein einziges es wert ist, über den Atlantik mitgeschleppt zu werden: ein geblümtes Kleid aus Polyester, das meine Mutter mir gekauft hat und das ich noch nicht ein Mal getragen habe; eine formlose Strickjacke mit ausgebeulten Ellbogen; ein mit einem glitzernden Faden gestopfter Pullover, dessen Ärmel ganz verfusselt sind.
»Vergiss nicht, warme Sachen einzupacken«, sagt meine |400| Mutter, die mit einem Armvoll nasser Wäsche ins Zimmer schlurft, die sie auf zwei kreuz und quer durch den Raum gespannten Leinen aufhängt.
Warme Sachen sind ihrer Meinung nach so unverzichtbar wie Suppe für eine ordentliche Ernährung oder frische Luft für gesunde Lungen. Man sollte immer ausreichend warme Sachen – Hüte, Handschuhe, Schals und Mäntel – dabeihaben, um das Überleben zu sichern.
»Ich brauche keine warmen Sachen«, sage ich. »Ich gehe nach Texas. Dort ist es das ganze Jahr über warm.«
»Jetzt mag es ja warm sein«, sagt sie und befestigt ein Laken mit Wäscheklammern, »aber lass erst einmal den Winter kommen, dann wirst du noch bereuen, dass du nichts Warmes dabeihast.« Sie beugt sich über den Wäscheberg und führt einen ihrer Aussprüche an: »Wir schätzen nicht, was wir besitzen, weinen aber, wenn wir es verlieren.«
Um ein Haar hätte ich entgegnet, dass es in Texas keinen Winter gebe, doch halte ich lieber meinen Mund. In den zurückliegenden Wochen haben sich die Aussprüche meiner Mutter auf seltsame Art und Weise in zunehmendem Maße als wahr herausgestellt; mir ist sogar der Gedanke gekommen, dass all die lebensklugen Sprüche, die wir von klein auf zu hören bekamen, gerade deshalb so klischeehaft klingen, weil sie zutreffen. »Ohne Arbeit holt man noch nicht einmal den kleinsten Fisch aus dem See« oder »Setz dich nicht auf den Schlitten eines anderen« oder »Wenn du wüsstest, wohin du fällst, würdest du etwas Stroh hinlegen« – wie ich mir widerstrebend eingestehen muss, wirken sie mehr und mehr wie erprobte Lebensweisheiten, die sich jetzt nicht mehr auf die Schnelle aneignen lassen.
Als meine Mutter unsere Bett- und Kissenbezüge aufgehängt hat, geht sie in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Marina |401| ist heute Abend auch da, und als ich zwischen diversen zerknitterten Regenmantelärmeln unter den Garderobenhaken im Flur stehe, höre ich ihre gedämpften, hitzigen Stimmen. Die meiner Mutter bebt vor Angst; die meiner Schwester sprüht nur so vor lauter Geringschätzung für jeden, der sich ängstigt, bloß weil jemand in den Westen geht.
»Was wissen wir denn schon über Amerika?«, fragt meine Mutter. »Die Leute betteln auf der Straße und schlafen unter Brücken, und jeder läuft mit einer Waffe herum.«
»Naja«, sagt Marina. »Wenn ich eine Waffe hier hätte,
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