Gotland: Kriminalroman (German Edition)
welchem Tonfall. Sie hätte ein Libretto und mindestens zwei Wochen Vorbereitungszeit gebraucht, doch nun saß sie da wie ein dummes Huhn, das aus heiterem Himmel der Blitz getroffen hat.
Der Sekundenzeiger machte einen weiteren Sprung.
Sie benahm sich nicht nur so, sie war wirklich ein dummes Huhn. Es war doch klar gewesen, dass es eines Tages passieren würde. Sie hatte es gewusst.
Drei Sekunden. Nun ging es nicht länger.
»Arvid!«
Vielleicht doch kein dummes Huhn. Einen Augenblick lang war sie richtig zufrieden mit sich. Sein Name, etwas gedehnt und mit leicht bebender Stimme. Letzteres beruhte zwar darauf, dass sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte, aber es hörte sich so an, als bekäme sie vor Freude keine Luft mehr.
»Hier war so viel los, dass ich noch gar nicht zum Nachdenken gekommen bin, aber … Es wird verdammt schön sein, nach Hause zu kommen. Jetzt bin ich endlich mein eigener Herr. Ich brauche nie wieder zu arbeiten, wenn ich nicht will. Wir können leben, wo wir wollen und wie wir wollen. Ich muss nie wieder weg, versprochen.
»Das ist ja unglaublich.«
Freude, Freude.
Sie musste sich anstrengen, um überhaupt zu verstehen, was er sagte. Es war, als würde sich seine Stimme in der Ferne verlieren, wie es das Licht im Zimmer tat. Als Kristina endlich seine Ankunftszeit in Visby wusste und aufgelegt hatte, wagte sie nicht aufzustehen. Solange sie sitzen blieb, würde sie weiterleben, aber sobald sie aufstünde, würde sie in ein tiefes Loch fallen, von einer großen Finsternis verschlungen werden und für immer verschwinden. Wenn sie genauer darüber nachdachte, vielleicht gar keine schlechte Alternative.
Aber sie wollte leben.
Wer war sie überhaupt? Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und trotzdem die Augen verschlossen.
Sie hielt die Knie mit den Händen umklammert, lehnte sich nach vorn und kniff die Augen fest zusammen, weil sie die Gefühle abwehren wollte, die sich in ihrem Körper ausbreiteten und schrien: Katastrophe.
»Ich habe mich wie ein Vogel Strauß verhalten«, flüsterte sie.
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie in dieser Körperhaltung tatsächlich einem Strauß ähnelte. Sie richtete sich auf und öffnete die Augen.
Auf den ersten Blick machte die große, blitzblanke Küche einen gemütlichen, altmodischen Eindruck. In Wirklichkeit hatte jeder Schrank bis zu zehntausend Kronen gekostet. Dekorativ mit künstlicher Patina überzogene Spezialanfertigungen. Sie hatte sich diese Küche ausgesucht, sie bestellt, über den Preis verhandelt, hatte dafür gesorgt, dass alles eingebaut wurde, hatte sich über eine klemmende Tür beschwert, die Tür wurde repariert, sie bekam einen Preisnachlass. Mit Kacheln, Herd und Dunstabzug hatte sie sich Zeit gelassen. Natürlich mit Arvids Zustimmung.
Sie hätte jahrelang Zeit gehabt. Sie hätte alles bis ins kleinste Detail planen können, um eines Tages einfach zu verschwinden. Was hatte sie zurückgehalten? Hielt sie es nicht für möglich, oder war sie einfach zu dumm? Natürlich teilte er das Geld für sie ein, und sie selbst hatte kein großes Vermögen, aber sie hätte etwas auf die Seite legen können. Wenn sie vor … etwa zwei Jahren angefangen hätte, damals, als die Gedanken Gestalt annahmen, als sie und Anders … Sie hätte bestimmt viertausend Kronen im Monat sparen können. Dann hätte sie jetzt fast hunderttausend in bar. Wie viele Träume hatte sie geträumt, wie viele heimliche Pläne geschmiedet. O Gott! Eine neue Identität … Geheim. Aber hatte sie auch nur einen einzigen Schritt unternommen, um die Träume zu verwirklichen und ihre Pläne in die Tat umzusetzen?
Sie schluchzte auf, doch das Weinen wurde zu einem kalten und höhnischen Lachen. Sie lachte über sich selbst. Es geschah ihr recht. Sie hätte längst unterwegs sein können.
Wenn sie nicht ans Telefon ginge, würde Arvid zwar sofort merken, dass etwas nicht stimmte, aber bevor er etwas unternehmen könnte, wäre sie weit weg, vielleicht sogar in einem anderen Land. Mit hunderttausend Kronen in der Tasche, die keine Spuren hinterlassen würden. Mit einem neuen Namen, einer neuen Personennummer, einer neuen Haarfarbe … Er hätte keine Chance.
Was würde jetzt passieren? Mit ihr und Anders? Wäre sie dazu in der Lage, würde sie sich selbst ohrfeigen. Herrgott noch mal, sie war siebenundvierzig Jahre alt, doppelt und dreifach erwachsen. Was war bloß los mit ihr?
Anders! Sie musste Anders anrufen!
Anders. Beinahe hätte sie
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