Gotland: Kriminalroman (German Edition)
ihn bereit und gab ihm eine Chance.
Sein Blick schweifte vom Meer zu den großen Holzstapeln hinter der Bürobaracke des Sägewerks. Der Wind hatte im Laufe des Nachmittags zugenommen und warf seine schulterlangen Haarsträhnen hin und her.
Er zog an der Zigarette. Was war bloß passiert. Kein Mensch rauchte mehr. Als er sich am Fährhafen eine angesteckt hatte, hatten ihn alle angestarrt wie einen Junkie, der sein Besteck für den nächsten Schuss vorbereitet. Er hatte sich entschuldigt. Natürlich hatte er von dem Verbot gehört, aber es war ihm noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn er mit der Zigarette zwischen den Fingern dastand, dachte er nicht daran. Ob er sich zu übertrieben entschuldigt hatte? Er hatte den Eindruck, dass die Leute wegguckten, sich einige Meter entfernten und ihre Kinder an sich drückten. Vielleicht auch nicht. Vermutlich reine Einbildung. Er hatte das Gefühl herauszustechen, nicht richtig zu wissen, wie man sich verhalten musste, um in der Masse der Durchschnittsbürger unterzugehen.
Er warf die Zigarette ins Wasser. Es war vollkommen verrückt, dass er hier war. Totaler Wahnsinn. Am zweiten Tag in Freiheit hatte er die Fähre bestiegen, um an den Ort zurückzukehren, wo er nie wieder einen Fuß hatte hinsetzen wollen. »Nur über meine Leiche«, hatte er sich geschworen.
»Mal sehen, wie’s ausgeht«, sagte er laut zu sich selbst.
Nun war er hier, und dafür gab es nur einen einzigen Grund. Arvid Traneus. Er hatte keinen konkreten Plan und keine Ahnung, was passieren würde. Er wusste nur, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Er hatte diese Fähre nehmen müssen.
Er hatte wirklich geglaubt, Stefania sei für immer verschwunden und vergessen, aber in den Jahren im Gefängnis hatte sie sich beharrlich in seinen Schädel gebohrt. Beim ersten Mal war sie ihm im Traum erschienen, und er war geschockt und verwirrt aufgewacht. Dann tauchte sie in seinen Gedanken auf, anfangs nur hin und wieder, dann immer öfter, bis sie ihm gar keine Ruhe mehr ließ. Nicht einen Tag. So tot, wie sie war.
Ruckartig wendete er dem Meer den Rücken zu und machte sich auf den Weg. In ihm herrschte Chaos. Im einen Moment wärmte ihn ein Gefühl der Glückseligkeit, weil er unterwegs war, und gab ihm die Richtung vor wie ein Leuchtfeuer in der Nacht, und schon im nächsten Augenblick blies ihm ein kalter Wind ins Gesicht. Dann sah er sich selbst von außen und schüttelte zweifelnd den Kopf. Doch kurz darauf gewannen Licht und Hitze wieder die Oberhand und überstrahlten den kalten Wind.
4
Der Boden unter seinen Füßen schwankte. Während des zwölfstündigen Flugs von Narita nach Heathrow hatte die Zeit nahezu stillgestanden. Sein Magen zog sich zusammen. Er nahm einen großen Happen von dem Omelett. In dem Restaurant in der schummrigen Transithalle war es so dunkel wie an einem Novembertag.
Omelett, in Dampf gegarte Brokkoliröschen und ein paar Kichererbsen in Kräuteröl und Zitrone. Kein Essen für einen echten Kerl, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, auf langen Flügen mit dem Essen vorsichtig zu sein. Doch das war nicht der einzige Grund. Er hatte seine Essgewohnheiten umstellen müssen, weil er stark zugenommen hatte. Ihm machte es zwar nichts aus, dick zu sein, aber dieser spindeldürre Arzt, den er laut Versicherungsvertrag alle sechs Monate aufsuchen musste, blickte immer tief besorgt von den Laborergebnissen auf.
Nun spielte er zweimal in der Woche auf einem wahnsinnig teuren Tennisplatz und ernährte sich gesund. Schließlich hatte er das Vermögen nicht im Schweiße seines Angesichts angehäuft, um nach Gotland zurückzukehren und zu sterben. Nein, er wollte sein Leben nicht mit dem Gesicht in einem Teller mit Kartoffelbrei, Butter und Kaviar beenden.
Ein Bier hatte er sich jedoch gegönnt. Alkohol vermied er auf Langstreckenflügen zwar ebenfalls, aber auf diesem letzten Rückflug von Japan gab es nun mal einen Zwischenstopp in London. Er kam nicht nach Hause, um zu sterben, aber er wollte auch nicht wie ein Mönch leben. Es war genau der richtige Zeitpunkt für ein Bier, obwohl es in London erst Morgen war.
Man wurde leicht zu gefräßig. Im Fall von Pricom waren sie zu gierig geworden, das gab er zu. Allerdings nur vor sich selbst. Aber wer die Möglichkeit dazu hatte, konnte sich eben nur schwer beherrschen, dem Gegner nicht noch das letzte bisschen Fleisch vom Knochen zu nagen. Womöglich würde die Niederlage von Pricom für seine Auftraggeber negative Folgen
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