Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Sonntag, 22. Oktober,
Karolinska-Krankenhaus, Solna
Schwerelos schwebte er durch die Dunkelheit. Diese Welt war schwärzer als die Nacht. Sie hatte keinen Anfang und kein Ende. Vielleicht war dies das reine Nichts. Und dennoch war er hier. Dennoch wusste er, dass er durch den Raum schwebte. Oder durch das Nichts.
War das ein Nahtoderlebnis? Balancierte er auf der Grenze zwischen Leben und Tod? Befand er sich in einem Niemandsland? Oder war er schon tot? Es war nicht unangenehm, er hatte keine Schmerzen. Eigentlich spürte er gar nichts, er hatte nur das Gefühl, durch einen großen, schwarzen Raum zu schweben. Würde er nicht mehr existieren, wenn das Schweben aufhörte? War dieses schwebende Gefühl das Leben selbst? Oder das Ende des Lebens? Immerhin war er in der Lage zu denken. Also musste er am Leben sein. Oder etwa nicht? Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber er konnte nur an das Schweben denken. War das überhaupt ein Gedanke? Er strengte sich an, aber da war sonst nichts. Nur die Nacht und das Schweben.
Antonia Capucci und ihre Kollegin warteten darauf, die Krankentrage in Empfang zu nehmen. Sie spähten in die Dunkelheit, aber das gleißende Licht der Scheinwerfer, die den Hubschrauberlandeplatz auf dem Krankenhausdach anstrahlten, blendete sie.
Lange bevor sie den Hubschrauber sahen, hörten sie das zornige Rattern der Motoren und das hektische Zischen der Rotorblätter irgendwo über ihnen in der schwarzen Nacht.
»Ich sage unten im OP Bescheid.« Antonias gleichaltrige Kollegin griff nach dem Hörer an der Wand.
Noch einmal ging Antonia die knappen Angaben auf ihrem Klemmbrett durch. Männlich, vierundvierzig Jahre, Kopfverletzung, bewusstlos. Polizist. Alles Weitere würde ihnen der Arzt, der den Krankentransport begleitete, im Fahrstuhl mitteilen.
Und da war er plötzlich, Falcks roter Rettungshubschrauber, vor ihnen in der Luft und peitschte ihnen Wind und Lärm ins Gesicht. Ein hellblaues Seil wehte davon. Sachte senkte sich der Hubschrauber auf das Krankenhausdach, der Pilot schaltete die Motoren ab, und die Rotoren liefen langsam aus.
Antonias Kollegin öffnete die Tür zum Fahrstuhl, und die Hubschrauberbesatzung kletterte rasch zur Heckklappe, um den Patienten herauszutragen. Ein im Dienst verletzter Polizist löste immer große Aufregung aus. Die Telefone standen nicht mehr still, obwohl die Reporter genau wussten, dass das Krankenhaus keine Informationen herausgab.
Der Transport kam von der Insel Gotland, aber das stand nicht auf ihrem Klemmbrett. Sie überprüfte, ob die Personennummer auf dem Patientenformular mit dem Plastikarmband übereinstimmte, das sie an seinem Handgelenk befestigen musste, und prägte sich den Namen ein: Fredrik Broman.
1
Die Wohnung von Arvid Traneus lag zwischen Roppongi und Akasaka im Tokioter Bezirk Minato. In der dunklen Glasfassade gegenüber spiegelte sich ein springendes Neonpferd. In welcher Gangart es sich fortbewegte, war nicht eindeutig zu erkennen. Bei jedem Sprung wechselte es in einem Sternenregen die Farbe. Seine naiv runden Formen hatten wenig Ähnlichkeit mit einem echten Pferd. Es fehlten die kräftigen Muskeln, der unruhige Blick und die gefährliche Kraft, die von einem lebenden Tier dieser Größe ausgeht. So ein massiver Körper kann einem Menschen unabsichtlich schweren Schaden zufügen.
In der Dunkelheit fast unsichtbar, flog ein Rabe mit schweren Flügeln zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Als er den lang gezogenen Schrei das erste Mal gehört hatte, war er erschauert. Wenn in Tokio die Menschen schlafen gingen, übernahmen nicht die Möwen die Stadt, sondern die Raben.
Man gewöhnte sich daran.
Arvid Traneus wendete der Oktobernacht vor dem Panoramafenster seines Schlafzimmers den Rücken zu, überließ das unbeirrbar springende Pferd und die flimmernden Lichter der Stadt sich selbst und sah zu Kass, der jungen Frau, die eben ins Zimmer gekommen war.
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte traurig. Langes schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern. Sie trug ein kurzes rotes Seidenkleid und hielt mit beiden Händen ein Weinglas, der letzte Schluck Cheval Blanc aus der Flasche, die er für heute Abend aufgemacht hatte.
Sie feierten Abschied.
Ursprünglich war der Auftrag nur als kurze Beratungstätigkeit gedacht gewesen. Schließlich waren daraus sieben Jahre Pendeln und drei Jahre in der Wohnung geworden, zwei davon mit Kass. Nun war es Zeit, nach Hause zurückzukehren. Jetzt war es vorbei.
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