Gott geweiht
öffnete die Tür und verschwand.
Morton sah aus dem Fenster auf den rußbedeckten Sims, wo eine Taube nach unsichtbaren Krumen pickte. Er wünschte, er könnte irgendetwas tun, um den Schmerz seines Freundes zu lindern, doch er wusste, dass er gegen Lees Dämonen machtlos war. Aber wenigstens würde er die Männer davon abhalten, sich hinter dem Rücken seines Freundes über ihn lustig zu machen, was sie oft genug getan hatten.
Lee Campbell trat aus dem Revier hinaus in den grauen Februar. Die Tage waren noch immer kurz, und das kalte Wetter erinnerte ihn unangenehm daran, dass der Frühling noch in weiter Ferne lag.
Dieses Jahr war die Weihnachtsfreude in New York ausgesprochen verhalten gewesen, die Feierlichkeiten überschattet von Trauer und Verlust nach dem Einsturz der Twin Towers. In der Presse war viel von Heilung und der Rückkehr zur Normalität zu lesen gewesen, doch Lee wusste, dass dies für viele Menschen leere Worte waren. Der Heilungsprozess würde nie abgeschlossen sein und »Normalität« niemals eintreten.
Lee zog seinen knielangen Tweedmantel enger um den Körper und ging auf die U-Bahn zu. Wie viele der luxuriöseren Dinge, die er besaß, war der Mantel ein Geschenk seiner Mutter, ein Mitbringsel von einer kürzlich unternommenen Reise nach Edinburgh. Lee erhaschte in einem Schaufenster einen Blick auf sein Spiegelbild – sein abgehärmtes Gesicht wollte so gar nicht zu dem eleganten Tweed passen.
Er senkte den Kopf tief und eilte im schneidenden Wind weiter. Es gab da einen Mann, an den er sich in Momenten wie diesen wenden konnte, einen Mann, der immer zu wissen schien, was nun am besten zu tun war. Lee lächelte, als er sich durch das Drehkreuz zwängte, um die Bahn zu nehmen, mit der er während seiner Studienzeit am John Jay College für Strafrecht bestimmt hundertmal gefahren war. Er musste mit seinem ehemaligen Mentor reden – dem legendären, jähzornigen, brillanten, launischen und durch und durch menschenfeindlichen John Paul Nelson.
KAPITEL 6
Professor John Paul Farragut Nelson war gar nicht erfreut.
»Gütiger Himmel, Lee! Kannst du es denn nicht gut sein lassen? Du bist gerade aus dem Krankenhaus raus, Herrgott noch eins!«
Nelson drückte wütend seine halb gerauchte Zigarette im Glasaschenbecher auf seinem Schreibtisch aus und marschierte zum Fenster hinüber. Sein Büro im John Jay College war geräumig, aber vollgestopft mit Büchern und Forschungsberichten, die sich zu beiden Seiten seines Schreibtischs auf dem Fußboden türmten.
Lee wand sich unbehaglich auf dem Sessel und schaute auf seine Schuhe. Eine Standpauke war ja zu erwarten gewesen, aber sein alter Professor war aufgebrachter, als er befürchtet hatte. Nelson rammte seine mit Altersflecken übersäte Hand in die rechte Hosentasche und fuhr sich mit der anderen durch das wellige kastanienbraune Haar.
»Denkst du tatsächlich , dass du bei diesem Fall eine große Hilfe sein wirst?«
»Na ja …«
»Du hattest einen Nervenzusammenbruch , verdammt! Und du glaubst, dass du einfach so ein paar Wochen später wieder zur Arbeit spazieren kannst, als wäre nichts geschehen?«
Lee starrte auf den Boden. Er kannte Nelson gut genug, um zu wissen, dass es ihn in dieser Laune nur noch wütender machen würde, wenn man mit ihm stritt. Ganz so, als würde man mit einer roten Fahne vor einem Stier herumwedeln. Und gerade ähnelte Nelson tatsächlich einem Stier – sein gedrungener Körper war angespannt, die Nasenlöcher gebläht, das Gesicht hochrot –, schlimmer als bei einem von Nelsons legendären Kneipenzügen nach den letzten Single-Malts.
Ein großer, dünner Student mit Irokesenschnitt und silbernem Nasenring kam am Büro vorbei und streckte seinen Kopf zur Tür herein – doch nach einem Blick auf Nelsons Gesicht verzog er sich schleunigst wieder. Lee schaute dem leuchtend orangefarbenen Stachelhaar hinterher, als es den Gang hinunter verschwand. Dann sah er wieder zu Nelson, der in seinem Schreibtisch wühlte – vermutlich auf der Suche nach Zigaretten. Er schien sich nie merken zu können, in welcher Schublade er sie aufbewahrte. Lee war immer etwas verwundert gewesen über das Interesse, das der gefeierte Professor Nelson ihm entgegenbrachte, ein Interesse, das mit seinem ersten Tag in Nelsons Grundkurs Kriminalpsychologie begann.
Nelsons Unterrichtsstil war ein Spiegel seiner Persönlichkeit. Er war herrschsüchtig, genial, ungeduldig und neigte zu einem Jähzorn, der so unvermittelt aufbrausen
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