Gott geweiht
KAPITEL 1
Lee Campbell betrachtete den nackten Körper auf dem Altar. Die zarte weiße Haut der jungen Frau war so blass wie der Marmorboden unter seinen Füßen, ein deutlicher Kontrast zu den hellroten Schnittwunden an ihrem Oberkörper und den blauen Flecken um ihren Hals herum.
»Komm schon, Marie, sprich mit mir«, flüsterte er, beugte sich über sie und suchte nach kleinen, punktartigen Blutungen in oder um ihre Augen, konnte aber keine entdecken. »Er hat es also mit den Händen gemacht«, murmelte Lee. Einige Opfer zeigten überhaupt keine Spuren nach dem Erwürgen, und so war er dankbar für die Blutergüsse am Hals – die waren ausgeprägt genug, um den Schluss zuzulassen, dass der Tod durch Ersticken und nicht wegen der Messerstiche eingetreten war. Lee dachte daran, wie die letzten Momente im Leben der jungen Frau abgelaufen sein mussten: Eine Kraft von fünf Kilogramm auf der Kehle führte innerhalb von dreißig Sekunden zur Bewusstlosigkeit und etwa dreizehneinhalb Kilo über vier bis fünf Minuten zum Tod.
Ihre Lippen waren blau angelaufen, ebenso wie die porzellangleichen Wangen. Wenigstens hat er ihr Gesicht nicht zerstört . Lee hatte schon oft darüber nachgedacht, wie merkwürdig es war, dass Strangulierte manchmal so friedlich wirkten, als wären alles Leid und aller Schmerz dieser Welt für immer von ihnen abgefallen. Neid überkam ihn, und sofort verbot er sich, diesen Gedanken weiter nachzuhängen. Er verbannte sie aus seinem Bewusstsein, dachte nicht mehr daran, wie leid er das irrwitzige Spiel des Lebens war und wie gerne er der jungen Frau gefolgt wäre.
Tatsächlich war ihr Tod natürlich alles andere als friedvoll gewesen. Lee sah auf die Buchstaben, die in ihren nackten Oberkörper geritzt waren: Vater unser im Himmel . Das V umschloss ihre linke Brust wie zwei rote Arme, die blutigen Wunden bildeten einen perfekten Winkel in ihrem blassen Fleisch. Ansonsten war die Schrift schräg und fiel nach unten ab – in aller Eile in den Körper geschnitten, als ob dieser Teil seines Werks dem Killer noch nicht recht behagte.
Inzwischen war das Blut getrocknet und klebte in dicken krustigen Brocken auf ihrer blassen Haut. Das Wort Himmel war in den Unterleib geritzt, genau über dem flaumigen Haar ihrer Scham. Auf dem Altar befand sich fast kein Blut, und es gab auch keine Anzeichen für einen Kampf. Also musste sie irgendwo anders umgebracht worden sein.
»Was ist dir passiert?«, flüsterte Lee. »Wer hat dir das angetan?« Obwohl er so leise sprach, hallte seine Stimme wie ein Geist durch die hohen Säulen der Kapelle. Lee war bis jetzt noch nie auf dem Campus der Fordham University in der Bronx gewesen, und es überraschte ihn, wie riesig die zugehörige Kapelle war. Andererseits war Fordham ja eine katholische Universität – tatsächlich befand sich das Theologische Seminar genau gegenüber dem Revier.
Lee musterte das Gesicht der Toten, wartete fast darauf, dass sie die Augen aufschlug, und bemerkte dann erstaunt, wie sehr sie seiner Schwester ähnelte – das gleiche lockige dunkle Haar und die weiße Haut. Er hatte sich oft vorgestellt, Laura so zu finden, hatte überlegt, was er dann wohl tun oder sagen würde, aber ihre Leiche war nie gefunden worden. Und so wartete diese letzte Begegnung mit seiner Schwester noch irgendwann in der Zukunft auf ihn. Er betrachtete Marie, kalt und reglos vor ihm auf dem Altar, keine einzige Falte verunstaltete die weichen Wangen, ihre Jugend musste dem Mörder ein Dorn im Auge gewesen sein, ein Affront, deshalb hatte er ihr alles Leben aus dem Körper gepresst. Für Lee war diese Nähe zu Leichen noch immer neu, und sie faszinierten ihn auf eine Weise, die nicht unbedingt gesund war. Das wusste er.
Leonard Butts hingegen, der Detective aus der Bronx, der den Fall bearbeitete, spürte von dieser Faszination nicht das Mindeste und neigte auch ansonsten nicht zu Sentimentalitäten.
»Okay, Doc«, sagte er und kam auf Lee zu. »Langsam fertig? Die Kollegen hier und wir würden die Leiche gern zügig ins Labor bringen.«
Butts zeigte auf ein paar Männer, die vor der Kapelle gerade eine Bahre aus ihrem Transporter luden. Lee las das Wort GERICHTSMEDIZIN , das in gelben Buchstaben auf ihre dunkelblauen Jacken gedruckt war. Ein paar Leute von der Spurensicherung schauten kurz hoch und machten dann mit ihrer Arbeit weiter – Fingerabdrücke nehmen, Fotos schießen, alles absuchen. Eine schlanke Asiatin mit ungerührter Miene fotografierte Marie
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