Gott geweiht
Büro. Lees Blick wanderte zu den Messingbüsten von Beethoven und Bach auf Nelsons Schreibtisch. Beethovens Gesicht hatte etwas Tragisches – die fest zusammengepressten Lippen und die breite Nase, die lebhaften traurigen Augen unter der wilden Mähne; das entschlossene Kinn, herausfordernd der Welt entgegengereckt, als wappnete er sich gegen alles, was das Schicksal für ihn bereithalten mochte … ein Abbild der Entschlossenheit, Sieg des menschlichen Willens über alles Unglück. Welch Gegensatz zu Bachs bürgerlicher Zufriedenheit, mit seiner dicken Nase im fleischigen Gesicht unter einer Perücke aus barocken Locken. Nelson hatte eine Vorliebe für Beethoven. Er hatte Lee Auszüge aus dem »Heiligenstädter Testament« vorgelesen, Beethovens verzweifeltem Brief an seinen Bruder, nachdem er die Diagnose seiner bevorstehenden Taubheit erhalten hatte.
Lee legte eine Hand auf die Beethoven-Büste, das Metall kalt und hart unter seiner Handfläche. »Du denkst dabei an meine Schwester, stimmt’s?«
Nelson zog die linke Augenbraue hoch. »Dieses Opfer ist ungefähr im gleichen Alter wie Laura, als sie …« Er wandte augenscheinlich verlegen den Blick ab.
Lees Finger legten sich fester um die Büste. »Als sie gestorben ist«, sagte er.
Obwohl sie Lauras Leiche nie gefunden hatten, war Lee überzeugt, dass seine Schwester tot war. Er hatte es vom Tag ihres Verschwindens an gewusst, so endgültig und unwiderruflich, dass die Zweifel und Spekulationen von wohlmeinenden Freunden, Familienmitgliedern und Nachrichtenreportern unerträglich für ihn waren. »Sie ist tot!« , hätte er ihnen am liebsten ins Gesicht geschrien. »Ist das nicht offensichtlich?«
Nelson gegenüber musste er sich nicht verstellen. Sein Mentor durchschaute die Psyche eines Verbrechers besser als sonst irgendjemand, den Lee kannte. Unerschrocken in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken war die Aufgabe eines Kriminalpsychologen, dafür wurde er ausgebildet.
»Sie ist tot«, sagte Lee und versuchte, seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen. »Und ob es dir gefällt oder nicht, zu einem gewissen Grad geht es für mich bei jedem Fall um Laura.«
Nelson seufzte. »Schon gut. Ich denke ja nur, dass du dich vielleicht zu früh in gefährliches Terrain vorwagst.«
Lee ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Ich weiß, dass ich in diesen Mörder hineinschauen kann, wenn ich nur die Chance dazu bekomme! Ich erkenne schon jetzt seine Muster …«
»Welche Muster? Es hat bislang nur eine Tote gegeben.«
Lee blieb stehen und drehte sich zu Nelson um. »Oh nein, genau da irrst du dich. Es gibt noch eine zweite – da bin ich mir sicher.«
»Ich habe nichts gehört von …« Nelson hob seine Hand an die Stirn. »Oh, Moment mal – da war vor ein paar Wochen eine junge Frau in Queens, eine nicht identifizierte Tote. Ist das der Fall, den du meinst?«
»Ja«, bestätigte Lee. »Ich bin mir sicher, dass zwischen den beiden eine Verbindung besteht.«
»Dieselbe Handschrift?«
»Nicht hundertprozentig, aber –«
»Wurde die Leiche in Queens nicht im Freien gefunden – in der Nähe vom Greenlawn-Friedhof?«
»Stimmt, aber sie war nicht weit von einer Kirche entfernt, und ich bin überzeugt, dass er sie dort abgelegt hätte, wenn ihn nicht irgendetwas aufgehalten hätte.«
Nelson rieb sich die dicken, rötlich braunen Bartstoppeln an seinem Kinn.
»Hol mich der Teufel. Ich frage mich, ob es noch mehr Opfer gibt.«
»Ich glaube nicht. Den Mord in Queens hat der Täter schlampig und in Eile ausgeführt, wie gehetzt. Es würde mich nicht überraschen, wenn der gänzlich ungeplant war. Der Mord gestern war sehr sorgfältig geplant und durchdacht. Und der Täter …« Lee hielt inne und sah Nelson an.
»Was?«
»Die Presse hat nichts davon erfahren, aber er hat sie verstümmelt.«
Nelson zog tief ein und schnippte Zigarettenasche in einen schweren grünen Jade-Aschenbecher, ein Reisesouvenir aus der Türkei.
»Weiter«, sagte er leise.
»Die Worte des Vaterunsers waren in ihren Bauch geritzt – oder zumindest der Anfang. Nach Eintritt des Todes, Gott sei Dank.«
»Du liebe Güte.«
»Das hat Zeit gebraucht.«
Nelson fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Mein Gott, Lee, ich befürchte immer noch, dass du dich mit diesem Fall übernimmst. Nimmst du deine Tabletten?«
Lee fischte ein Tablettenröhrchen aus der Tasche und hielt es Nelson unter die Nase. Nelson studierte den Aufkleber.
»Keine sonderlich hohe Dosis.
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