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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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blau – wanden sich wie Weinranken aneinander hoch, in perfekter Symmetrie.
    »Das hier ist uns allen gemein – DNA , die Doppelhelix, die Struktur allen Lebens, wie wir es kennen. Aber vielleicht ist sie nur der Anfangspunkt, und es kann nicht alles, was wir sind, auf Tintenkleckse auf einem Blatt Papier reduziert werden.« Er klickte abermals, und ein symmetrisches, schwarz-weißes Muster erschien – ein dunkler Tintenfleck, den Lee auf den ersten Blick als einen Rorschach-Klecks erkannte.
    »Was ist das?«, fragte Nelson und strich sich über sein Kinn. »Ein Schmetterling? Oder vielleicht ein Amboss? Oder sehen einige von Ihnen darin einen Mantarochen? Oder einen Uterus? Wie wär’s mit einer Leiche? Wenn Sie darin eine Leiche sehen, macht Sie das zu einem Serienmörder in spe? Oder ist vielleicht der Serienmörder so verklemmt, dass er derjenige ist, der den Schmetterling sieht?«
    Er setzte sich auf die Kante des Pults und ließ sein rechtes Bein pendeln. »Flaubert hat den berühmten Ausspruch getan: ›Madame Bovary, c’est moi.‹ Um über eine Figur zu schreiben, versetzt ein Schriftsteller sich in den Kopf der Figur – schlüpft in ihre Haut, wenn man so will. Der Profiler muss das Gleiche tun, wie ein Schauspieler, der mit seiner Rolle verschmilzt.«
    Das Theater hatte eindeutig einen begabten Schauspieler verloren, als Nelson sich für eine Karriere in der Psychologie entschied. Mit seiner energischen Persönlichkeit, seiner sonoren Stimme und seinem Charisma war er wie für die Bühne geboren, fand Lee.
    »Für die meisten Wiederholungstäter, die wir als Serienmörder bezeichnen, spielt die Phantasie eine immens wichtige Rolle. Oftmals stellt sogar ihre Identität eine Art Phantasie dar – Ted Bundy, der engagierte Bürger, politische Aktivist und treusorgende Freund, oder John Wayne Gacy, der fröhliche Clown, Rotarier und einsatzfreudige Helfer für das Gemeinwohl, der auf Kinderfesten auftrat. Das waren Fassaden, die erschaffen wurden, um eine dunklere Persönlichkeit zu verbergen, die der Täter der Gesellschaft nicht präsentieren wollte.«
    Er machte eine Pause, um seine Worte sacken zu lassen, und trank einen Schluck aus der Wasserflasche auf seinem Pult. Lee fand, dass Nelson müde aussah, dass die Ränder unter seinen blauen Augen schwärzer schienen. Nelson lehnte sich wieder gegen das Pult und verschränkte seine Arme.
    » R . D . Laing sagt, je mehr die Identität Phantasie ist , desto erbitterter wird sie verteidigt. Ist das nicht logisch? Wenn man weiß , wer man ist, dann besteht kein Grund, sich gegen einen – realen oder imaginären – Angriff zu verteidigen, denn das Wissen gibt einem Sicherheit. Doch obwohl das Subjekt auf einer Ebene weiß, dass sein falsches Selbst nicht real ist, ist die Alternative undenkbar – nicht bloß Tod, sondern die völlige Auslöschung.
    Das Subjekt erkennt nicht, dass sein falsches Selbst von einem realen, authentischen ersetzt werden könnte. Seine Tragödie ist, dass es nicht sehen kann, was jenseits davon liegt – ihm erscheint es als eine endlose Ödnis, in der es wie ein Zombie umherwandert, eine von der Gesellschaft ausgestoßene Kreatur, dazu verdammt, rastlos umherzustreifen, seine leeren Augen blind in einem Gesicht ohne Verstand, einem Körper ohne Seele.
    Und so verteidigt es diese falsche Identität mit der Rücksichtslosigkeit einer Löwin, die ihre Jungen beschützt – denn sein Selbsterhaltungstrieb befiehlt es ihm.«
    Ms. Davenport meldete sich. »Dann sagen Sie also prinzipiell, bei diesen Menschen ist ›kein dort‹ ›dort‹?«
    Nelson schmunzelte. »Knapp und prägnant wie immer, Ms. Davenport.« Er wandte sich dem Rest der Seminarteilnehmer zu. »Ms. Davenport hat meine ganze komplexe Theorie in wenigen Worten zusammengefasst – aber grundsätzlich hat sie es genau getroffen. Das Bild von sich, das der Täter für die Außenwelt erschafft, ist nicht ›realer‹ als das Phantasieleben, das er im Privaten führt – bis er damit beginnt, Verbrechen zu begehen, und es nicht länger privat ist.«
    Er beugte sich vor, und seine Miene war sehr ernst, beinahe verletzlich. »Die meisten von uns nehmen unsere Identität als gegeben hin. Sie, Ms. Davenport, zum Beispiel. Lassen Sie uns einmal annehmen, Sie sind das erstgeborene Kind, der Schlaukopf, der Organisator, fähig und verantwortungsbewusst. Ihre Mutter und Ihre Geschwister konnten sich immer auf Sie verlassen, und das wussten Sie über sich selbst, noch bevor Sie die

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