Gott geweiht
Fähigkeit der Sprache hatten. Dieses Wissen über Sie selbst hat Ihnen ein gewisses Gefühl der Sicherheit in der Welt gegeben.«
Ms. Davenport wurde rot, eine tiefdunkle Röte, die von ihrem Halsansatz zu den zarten blauen Adern an ihren Schläfen aufstieg.
Nelson fuhr fort. »Natürlich weiß ich in Wirklichkeit gar nichts über Ms. Davenports Familie. Aber lassen Sie uns einfach annehmen, sie hätte einen jüngeren Bruder, der der Familienclown war, der Spaßvogel, ein wenig verantwortungslos vielleicht, aber er konnte Leute immer zum Lachen bringen, und das gab ihm eine gewisse Sicherheit, ein Verständnis davon, wer er war.
Mein Punkt ist, dass wir all diese Dinge als gegeben hinnehmen – wenn wir endlich in der Lage sind, in Worte zu fassen, wer wir sind, haben wir ein gewisses Verständnis davon schon allein dadurch erlangt, wie andere zu uns und wir zu ihnen stehen.
Aber für den Menschen, der auf dem Weg zum Serientäter ist, ist das nicht der Fall. Ihm mangelt es an einem Grundverständnis davon, wer er ist, und als Folge daraus hat er gelegentlich das Gefühl, niemand zu sein . Er fühlt sich unfähig und machtlos. Daher erschafft er eine Phantasiewelt, die das genaue Gegenteil von dem darstellt, was er als Realität sieht – eine Welt, in der er allmächtig ist, potent und vollkommene Kontrolle über andere besitzt. Diese Kontrolle beinhaltet meistens gewalttätige sexuelle Phantasien – auch hier wieder das genaue Gegenteil dessen, was er auf anderer Ebene als Realität wahrnimmt, nämlich die extreme Ablehnung durch Frauen – oder Männer, wenn er homosexuell ist.
Jeffrey Dahmer hat seinen Opfern die Köpfe abgetrennt und sie in die Gefriertruhe gelegt, damit sie ihn nicht verlassen konnten . Dieser Grad an Verzweiflung steht in direkter Verbindung zu dem Grad an Hass, den diese Verbrecher auf ihre Opfer richten – die oft nur Stellvertreter für Menschen im Leben der Täter sind, die ihnen tatsächlich Leid zugefügt haben. So könnte es zum Beispiel sein, dass ein brutaler Frauenmörder seinen Hass auf seine Mutter auslebt, die ihn emotional missbraucht.«
Nelson ließ seinen Blick über den Saal voller eifrig lauschender Gesichter schweifen. »Was ist der Unterschied zwischen der Signatur eines Mörders und seinem Modus Operandi?«, fragte er und lehnte sich weiter zurück. »Ja, Ms. Davenport?«
»Der Modus Operandi meint die typische Vorgehensweise des Mörders – doch die kann sich ändern. Mit der Signatur sind die sich wiederholenden ritualisierten Handlungen gemeint – die oftmals für die Ausführung des Verbrechens unnötig, für den Mörder aber zwingend notwendig sind, damit er emotionale oder sexuelle Befriedigung aus seiner Tat ziehen kann.«
»Was wären Beispiele für eine Signatur?«
Der schmächtige, blonde Student mit der heiseren Stimme reckte eifrig seine Hand in die Höhe.
»Ja?«
»So etwas wie postmortale Verstümmelungen oder die Art, wie die Leiche zur Schau gestellt wird – das könnten zum Beispiel Signaturen sein.«
»Ganz richtig.« Nelson lächelte. »Die Signatur ist von größter Bedeutung für den Mörder – und den Profiler –, denn sie entsteht aus einem unbewussten Trieb oder einer Obsession, und deshalb ändert sich ihre grundsätzliche Natur nicht, auch wenn sie sich durchaus entwickeln kann.«
Ein dunkelhaariger Student in der ersten Reihe meldete sich. »Entwickeln? Wie meinen Sie das?«
»Nun, zum Beispiel, können das Positionieren und Zurschaustellen der Leiche kunstvoller und detaillierter werden – die Opfer des Würgers von Boston, die des Green-River-Killers und die von Jack the Ripper wiesen gewisse Ähnlichkeiten auf, aber in all diesen Fällen eskalierten die Rituale und wurden im Laufe der Zeit immer mehr ausgeschmückt. Daran lässt sich ablesen, dass der Mörder gelassener an das herangeht, was er tut – er fühlt sich ungezwungener und kann seine Phantasien in wachsendem Detail ausleben. Bei einem geisteskranken, desorganisierten Mörder wiederum kann es auf den wachsenden Druck seiner Geisteskrankheit hinweisen.«
Nelson sah auf seine Uhr. »Okay, genug für heute. Und vergessen Sie nicht, bis zum nächsten Mal die aufgegebenen Texte zu lesen.«
Während die Studenten den Saal verließen, ging Lee zu Nelson, der am Pult stand und seine Notizen und Dias einpackte. Als er hochschaute und seinen Freund sah, lächelte Nelson, doch sein Lächeln erlosch, sobald er Lees Miene bemerkte.
»Oh nein«, sagte er. »Es gibt eine
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