Gottesstreiter
Straße hinunter. Es war ganz einfach nicht möglich, dass es von Vítkov her nach Blut roch. Erstens war es ziemlich
weit bis dorthin. Zweitens hatte die Schlacht im Sommer 1420 stattgefunden. Vor sieben Jahren. Sieben langen Jahren.
Energischen Schrittes eilte er an der Heilig-Kreuz-Kirche vorüber. Aber der Blutgeruch verging nicht. Ganz im Gegenteil. Er
wurde stärker. Denn plötzlich wehte der Wind von Westen her.
Ha, dachte er, während er zum nahe gelegenen Ghetto hinüberblickte, Steine sind nicht wie der Erdboden, diese alten Ziegelsteine
und der Putz hier haben schon viel gesehen, vieles hat sich in ihnen erhalten. Was dort eingedrungen ist, stinkt noch lange
vor sich hin. Und dort, bei der Synagoge, in den Gässchen und Häusern ist noch viel mehr Blut geflossen als bei Vítkov. Zu
Zeiten, die noch nicht ganz so lange zurückliegen. Im Jahre 1422, während des blutigen Pogroms, während der Unruhen, die in
Prag nach der Hinrichtung von Jan Želivský ausgebrochen waren. Prag, erbost über den Tod seines beliebten Volkstribunen, der
durch das Schwert umgekommen war, hatte sich erhoben, um sich zu rächen, zu brennen und zu morden. Wie üblich hatte dabei
das jüdische Viertel am meisten abbekommen. Die Juden hatten mit der Hinrichtung Želivskyś absolut nichts zu tun und trugen
in keiner Weise die Schuld an seinem Tod. Aber wen störte das?
Hinter dem Heilig-Kreuz-Friedhof bog Reynevan ab, ging am Spital vorbei, kam zum Alten Kohlenmarkt, lief über den kleinen
Platz, tauchte in Torbögen und enge Durchgänge, die zur Langen Gasse führten. Der Blutgeruch verschwand, er löste sich in
einem Meer von anderen Gerüchen auf. Die Torbögen und die Durchgänge stanken nämlich nach allem, was sich denken ließ.
Die Lange Gasse begrüßte ihn sogleich mit ihrem alles beherrschenden, |13| ja geradezu überwältigenden Brotgeruch. An den Bäckerständen, auf den Laden und Bänken erglänzte, prahlte und duftete das
berühmte Prager Backwerk, so weit das Auge reichte.
Obwohl er im Spital gefrühstückt hatte und keinen Hunger verspürte, konnte er sich nicht bezwingen – gleich an der ersten
Bäckerbude erstand er zwei frische Brötchen. Die Brötchen, die hier
calty
genannt wurden, hatten eine derart aufdringliche erotische Form, dass Reynevan längere Zeit träumend durch die Lange Gasse
wanderte, an Buden stieß, während seine Gedanken in einem wüstenheißen Wirbelsturm um Nicoletta kreisten. Um Katharina von
Biberstein. Unter den Fußgängern, in die er in seiner Selbstvergessenheit hineinlief, waren einige überaus attraktive Pragerinnen
unterschiedlichsten Alters. Er bemerkte sie nicht. Er entschuldigte sich zerstreut und ging weiter, biss von Zeit zu Zeit
von seiner
calta
ab und betrachtete sie dann wieder gedankenverloren.
Der Altstädter Markt rief ihn mit seinem Blutgeruch in die Realität zurück.
Ha, dachte Reynevan, während er seine
calta
aufaß, hier ist das vielleicht nicht verwunderlich. Für diese Pflastersteine war Blut nichts Neues. Jan Želivskyúnd neun seiner
Gefährten war hier der Kopf abgeschlagen worden, im Alten Rathaus, nachdem man sie an einem Montag im März dorthin gelockt
hatte. Als man nach dieser verräterischen Hinrichtung den Fußboden des Rathauses schrubbte, war der blutige Schaum in Strömen
unter den Toren hervorgequollen und, wie man hörte, bis zum Pranger in der Mitte des Marktplatzes geronnen, wo er eine große
Lache bildete. Kurz darauf, nachdem die Nachricht vom Tode des Tribunen in Prag einen Zornesausbruch und den Ruf nach Rache
ausgelöst hatte, war Blut in alle umliegenden Rinnsteine geflossen.
Zur Kirche der Jungfrau Maria vor dem Teyn begaben sich viele Leute, in dem Gewölbe, das zur Kirchenpforte führte, herrschte
großes Gedränge. Rokycana predigt, dachte Reynevan. |14| Es wäre eigentlich recht gut zu hören, was Rokycana zu sagen hat. Jan Rokycanas Predigten zu hören, lohnte sich immer. Immer.
Besonders jetzt, wo der so genannte Verlauf der Ereignisse in geradezu erschreckendem Tempo Stoff für Predigten lieferte.
Es gab wohl genügend Dinge, über die man predigen konnte. Und die man sich unbedingt anhören musste.
Keine Zeit, ermahnte er sich. Es gibt wichtigere Dinge, dachte er. Und es gibt ein Problem.
Es ist darauf zurückzuführen, dass ich verfolgt werde.
Dass man ihn verfolgte, hatte Reynevan schon längst mitbekommen. Gleich nachdem er das Spital verlassen hatte, bei der
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