Gotteszahl
am Telefon mit schmatzenden Kusshänden bedacht hatte. Das war sein Dank dafür, dass sie den Umschlag gefunden hatte.
Die Versuchung, das Siegel zu brechen, war fast unwiderstehlich. Sie legte die Hand auf das dicke Papier. Solche Umschläge ließen sich zwar über Dampf öffnen, aber das Siegel war ein Problem.
Mit leisem Seufzer legte sie den Umschlag auf Kristen Fabers Tisch und ging wieder an ihren Platz.
Sie würde jedenfalls dabei sein, wenn er ihn öffnete.
»Wir können damit nicht an die Öffentlichkeit gehen«, sagte Silje Sørensen und legte die ganze Hand über das Bild des geheimnisvollen Mannes. »Jedenfalls noch nicht. Wenn wir das Bild veröffentlichen, verliert es viel von seinem Wert. Alle werden sich eine Meinung bilden, die Anrufe werden nur so hereinströmen, und aller Erfahrung nach bleiben wir erst einmal stecken, ehe es endlich etwas zu holen gibt. Jetzt dagegen …«
Sie betrachtete das Bild noch einige Sekunden lang, ehe sie sich wieder setzte. »Jetzt haben wir ein Ass im Ärmel. Wir haben etwas, und er weiß nicht, dass wir es haben.«
Inger Johanne nickte. Als sie wieder zur Besinnung gekommen war, nachdem sie den Mann auf dem Phantombild erkannt hatte, waren sie die Sache noch einmal Punkt für Punkt durchgegangen. Jetzt hatte sie eine weitere Flasche Mineralwasser halb geleert und versuchte, ein Rülpsen zu unterdrücken.
»Und du bist ganz sicher?«
Es war das dritte Mal, dass Silje diese Frage stellte.
»Ich bin ganz sicher, dass diese Zeichnung eine unbegreifliche Ähnlichkeit mit dem Mann hat, der Kristiane gerettet hat, ja. Als ob er Modell gestanden hätte. Dass es sich wirklich um denselben Mann handelt, kann ich natürlich nicht beschwören. Es geht darum, dass …«
Sie musste aufstoßen. »Verzeihung«, sagte sie und presste sich die Faust auf den Mund. »Es geht darum, dass es hier inzwischen so viele Zusammenhänge gibt, dass nicht mehr von purem Zufall die Rede sein kann. Dass der Mann, mit dem Hawre Ghani zuletzt gesehen worden ist, dort auftaucht, wo Marianne Kleive ermordet wurde, muss doch als Durchbruch betrachtet werden. In beiden Fällen, möchte ich hinzufügen.«
»Du kannst hier anfangen.«
Silje deutete ein Lächeln an, dann trat eine neue Furche zwischen ihre schmalen Augenbrauen, und sie fügte hinzu: »Und wo du gerade den Durchblick hast, kannst du dieses Abzeichen da erklären?«
Sie richtete den Finger auf die Zeichnung. »Das hat uns reichlich verwirrt.«
»Das war auch der Sinn der Sache«, sagte Inger Johanne. »Die Zeiten für falschen Bart und gefärbte Haare sind vorbei. Kennst du Hitchcocks Strangers on a train ?«
Silje runzelte die Stirn noch mehr.
»Das ist der Film, wo zwei sich in einem Zug begegnen«, sagte Inger Johanne. »Beide möchten einen Mord begehen. Der eine schlägt vor, die Morde zu tauschen, damit beide sich ein hieb- und stichfestes Alibi zulegen können. Der Mörder hat dann kein Motiv, und wie wir wissen, versucht die Polizei als Erstes, ein Motiv zu finden.«
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit musste sie an Wencke Bencke denken. Sie verdrängte den Gedanken und versuchte zu lächeln.
»Ich … Ich seh mir so was nicht sehr oft an«, sagte Silje.
»Das solltest du aber. Wie auch immer: Das Abzeichen ist da, weil es rein gar nichts mit dem Fall zu tun hat. Sieh dir seine Kleidung an: Dunkle neutrale Sachen ohne ein einziges besonderes Kennzeichen. Jeder halbwegs aufmerksame Beobachter wird an dem knallroten Abzeichen hängen bleiben. Und dann vergeudet ihr jede Menge Energie an …«
»Aber woher hat er es?«
»Kann von überall her sein. Und es kann alles Mögliche sein. Etwas, was er irgendwo aufgelesen hat. Wenn wir uns nicht irren, haben wir es mit einem professionellen Mörder zu tun. Seine Haare, zum Beispiel. Hat er eine Glatze oder hat er sich den Schädel rasiert? Ich tippe auf Letzteres.«
»Als ob du das gelesen hättest«, sagte Silje und schwenkte die Notizen des Zeichners. »Martin Setre war sich nicht sicher.«
»Aber er hat sich diese Frage gestellt? Ich nehme an, dieser Mann …«
Sie nickte zur Pinnwand hinüber. »… hat eigentlich ganz normale Haare. Statt eine Perücke zu tragen oder sich die Haare zu färben, was ja nie so ganz echt aussieht, rasiert er sie weg.«
Silje schüttelte kurz den Kopf. »Wir haben uns schon gefragt, ob der Mann uns zum Narren hält.«
Sie schwiegen. Inger Johanne hatte sich längst wieder auf ihre Hände gesetzt. Jetzt wurden ihre Finger taub, und ein
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