Gotteszahl
rascher Blick sagte ihr, dass sie nicht mehr nur ungepflegt waren, sondern noch dazu kreideweiß und mit roten Flecken.
»Ganz allein kann er nicht operieren«, sagte Silje, mehr als Frage denn als Überlegung.
»Nein, das glaube ich auch. Sie sind eine Gruppe. Aber nichts ist bewiesen.«
»Ich muss weitermachen«, sagte Silje laut und schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Wir müssen möglichst bald eine offizielle Zusammenarbeit mit der Kripo beginnen. Und mit der Bergenser Polizei. Und …«
Sie holte Luft und ließ sie dann zwischen den zusammengepressten Lippen entweichen. »Das hier ist so verdammt viel, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll.«
Inger Johanne staunte, als die schmale feminine Gestalt fluchte.
»Vielleicht irre ich mich ja«, sagte sie leise.
»Ja, aber das Risiko dürfen wir nicht eingehen.«
Sie standen gleichzeitig auf, wie auf Kommando. Inger Johanne nahm ihre große Umhängetasche und ihren Dufflecoat und ging zur Tür.
Sie hatte nichts über das Gefühl gesagt, dass Kristiane überwacht wurde. Als sie zum Abschied Siljes Hand nahm, bereute sie es. Silje Sørensen war eine Fremde, ohne Isaks und Yngvars spontane Abwehrreaktionen gegen Inger Johannes Überängstlichkeit. Silje war selbst Mutter, wenn Inger Johanne die Familienbilder auf der Fensterbank richtig deutete.
Vielleicht hätte sie ihr geglaubt, zumal es auch für den Fall von Bedeutung sein konnte.
»Danke, dass du mir zugehört hast«, sagte sie und ließ Siljes Hand los.
»Eigentlich müssten wir uns bedanken«, sagte Silje mit freudlosem Lächeln. »Und wir reden sicher bald weiter.«
Als Inger Johanne zwei Minuten später in ihrem Auto saß, begriff sie nicht, warum sie nichts über den verschwundenen Ordner, den Mann am Gartenzaun und ein undefinierbares, beängstigendes Gefühl darüber gesagt hatte, dass es dort draußen jemanden gab, der ihrer Tochter nicht unbedingt Gutes wollte.
Es wäre ein Verrat an Yngvar, nicht zuerst mit ihm zu reden.
Jetzt, da die Osloer Polizei sie ernst nahm, würde er sicher aufmerksamer zuhören.
Hoffte sie.
Astrid Tomte Lysgaard hätte sich von Lukas so sehr eine andere Antwort gewünscht. Sie bezweifelte nicht, dass er die Wahrheit gesagt hatte, so gut kannten sie einander. Trotzdem hatte er in letzter Zeit etwas an sich, was sie nicht verstand. Seit sie auf dem Gymnasium ein Paar geworden waren, hatte sie Lukas immer bewundert. Er sah gut aus, war in der Schule gut, und er war lieb. Mit den Jahren kamen finanzielle Verpflichtungen hinzu, drei Kinder, Alltag. Lukas nahm alles ernst. Niemals gerieten sie mit Rechnungen in Verzug. Er hatte, seit der Älteste in den Kindergarten gekommen war, nicht einen Elternabend versäumt und sich freiwillig in den Elternrat gemeldet, sowie der Junge eingeschult wurde. Lukas war geschickt und fleißig und hatte Anbau und Garage selbst errichtet. Niemals würde er für Schwarzarbeit bezahlen. Immer wehrte er sich gegen jede Form von Rassismus oder übler Nachrede.
Ihre Freundinnen konnten ab und zu die Bemerkung fallen lassen, Lukas sei langweilig.
Sie kannten ihn nicht, wie sie ihn kannte.
Lukas war alles andere als langweilig, aber jetzt verstand sie ihn nicht.
Der Schock über den Mord an Eva Karin musste in etwas noch Schlimmeres übergegangen sein und hatte ihm mehr als nur tiefen Kummer zugefügt. Dass er nicht alles tat, um der Polizei zu helfen, war unbegreiflich.
Lukas machte doch niemals etwas falsch.
Der Polizei nicht zu helfen, das war falsch.
Sie goss sich Kaffee ein und setzte sich aufs Sofa. Sie hielt sich die Tasse ans Gesicht und spürte, wie der feuchte Dampf sich auf ihre Haut legte und kalt wurde.
Lukas hatte keine Schwester. Wenn Eva Karin aus einem früheren Leben eine Tochter gehabt hätte, mit Erik als Vater oder nicht, dann hätte sie dazu gestanden. Wenn das Kind zur Adoption freigegeben worden wäre, hätte sie es ihrer Familie erzählt. Eva Karin hatte in einzelnen Zusammenhängen zwar distanziert wirken können, fast verschlossen. Astrid hatte diese flüchtige Zerstreutheit der Tatsache zugeschrieben, dass eine Geistliche viele Geheimnisse anderer Menschen mit sich herumtrug. Eva Karin flößte Vertrauen ein. Sie war leise, sogar auf der Kanzel, mit einer singenden, schlichten Sprache, die an sich bereits zu Geständnissen aufforderte. Und niemals, nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren hatte Astrid erlebt, dass Eva Karin Dinge gesagt hätte, die sie nicht sagen dürfte.
Was sie selbst
Weitere Kostenlose Bücher