Gotteszahl
Junge. Straßenjunge. Stricher. Weißt du, wer das ist?«
Noch immer hielt sie Inger Johannes Arm. Ihr Griff wurde fester.
»Ich habe diesem Mann eine Ohrfeige verpasst«, sagte Inger Johanne.
»Was?«
»Entweder spielt der Zeuge mir einen Streich, oder er ist der aufmerksamste Beobachter der Welt. Diesen Mann werde ich nie vergessen. Er …«
Das Blut kehrte in ihren Kopf zurück. Sie hatte das Gefühl, lange nicht mehr so klar gedacht zu haben. Eine seltsame Ruhe überkam sie, als hätte sie endlich erkannt, was sie wollte und woran sie glaubte. »Er hat meiner Tochter das Leben gerettet«, sagte sie. »Er hat Kristiane davor gerettet, von der Straßenbahn überfahren zu werden, und ich habe ihm zum Dank eine gescheuert.«
Anwalt Kristen Fabers Sekretärin hatte es endlich geschafft, die Schublade ihres Chefs aufzustochern. Natürlich hatte sie keinen Schlosser oder Schreiner holen müssen. Sie hatte nur ein wenig energisch mit einem Federmesser, das zur Zierde auf ihrem Schreibtisch lag, am Schloss herumgebohrt. Klick, sagte es, und die Schublade öffnete sich.
Da lag der Umschlag. Groß und braun, handschriftlich mit Niclas Winters Namen und Personenkennnummer versehen. Der Umschlag war auf altmodische Weise versiegelt, mit Lack und Stempel. Als zusätzliche Garantie gegen unbefugtes Öffnen hatte jemand eine absolut unleserliche Unterschrift quer über die Stelle gesetzt, an der der Umschlag zugeklebt war.
Als Kristen Faber die Kanzlei vom alten Anwalt Skrøder übernommen hatte, war zunächst viel zu tun gewesen. Ulrik Skrøder war im letzten halben Jahr, ehe sein Sohn den armen alten Mann entmündigen und die Kanzlei verkaufen konnte, total senil gewesen.
Das hatten sie jedenfalls so gehört. Die Sekretärin, die für Ordnung sorgen und sich um die Wiedervorlagetermine kümmern musste, die entweder schon verstrichen waren oder kurz bevorstanden, hatte den Eindruck gehabt, der Mann sei schon seit vielen Jahren durcheinander gewesen. Nichts war in Ordnung, und sie brauchte mehrere Monate allein für die Grobsortierung.
Als sie endlich damit fertig war, wurde Kristen klar, dass er für die Kanzlei viel zu viel bezahlt hatte. Es gab weniger laufende Fälle als zugesichert, und die meisten Mandanten waren offenbar im Alter ihres Anwalts. Sie starben ganz einfach, einer nach dem anderen, ihre Angelegenheiten in penibler Ordnung und ohne Bedarf an anwaltlicher Hilfe.
Anderthalb Jahre später gewann Kristen eine Klage auf Erstattung der halben Summe, die er hingeblättert hatte.
Die Sekretärin konnte Kristens Frustration darüber, die Katze im Sack gekauft zu haben, gut verstehen. Trotzdem musste sie ihn ab und zu an die vielen versiegelten Umschläge erinnern, die in einem Schrank im Archiv gelegen hatten. Einige sahen uralt aus, und Anwalt Skrøders Sohn hatte behauptet, sie könnten hohe Werte enthalten. Sie seien von einigen der ältesten und reichsten Familien der Stadt in Verwahrung gegeben worden. Sein Vater habe immer gesagt, der schwere Eichenschrank mit den ihm anvertrauten Unterlagen sei der Beweis für sein hohes Renommee. Da alle versiegelt waren, ordentlich beschriftet mit Namen oder Inhalt, hatte Kristen Faber sich damit begnügt, vielleicht ein Dutzend von ihnen zu öffnen, damals, als er ganz besonders verzweifelt darüber gewesen war, eine Kanzlei gekauft zu haben, die nicht den geringsten Gewinn abwarf.
Abgesehen von Aktien in Firmen, die längst nicht mehr existierten, Eheverträgen zwischen Paaren, die längst nicht mehr lebten, und Banknoten, die längst nicht mehr gültig waren, fand er nur einen Romanentwurf eines unbekannten Autors, und er konnte nach zehn Seiten sagen, dass der Text rein gar nichts taugte. Danach knallte er die Schranktür zu, fest entschlossen, den ärgerlichen Verlust zu vergessen und sich aus eigener Kraft hochzuarbeiten.
Seither hatte der Schrank einfach nur dort gestanden.
Sie selbst hatte ihn zum ersten Mal in fast neun Jahren geöffnet, als der junge Niclas Winter angerufen hatte. Er wirkte frustriert, war ziemlich unhöflich und wollte wissen, ob sie einen Umschlag mit seinem Namen im Archiv hätten. Da sie Zeit genug hatte und von Natur aus neugierig war, hatte sie im Schrank nachgesehen. Und da lag er. Bei genauerem Betrachten wirkte er neuer als fast alles andere in diesem Schrank.
Jetzt hielt sie den Umschlag ins Licht.
Es war unmöglich zu sehen, was darin steckte. Niclas Winter hatte auch nichts darüber gesagt, als er sie kurz vor Weihnachten
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