Gotteszahl
nur, wenn ich mich entspanne.«
»Du musst aber wach bleiben. Es läuft gleich …«
Rasch sah sie die DVDs auf dem Couchtisch durch. »Zuerst What happens in Vegas. Dieser Ashton Kutcher ist unvorstellbar reizend. Und Kritik ist verboten. Jetzt machen wir es uns einfach nur gemütlich.«
Sie versetzte Inger Johanne einen Tritt, und die schüttelte resigniert den Kopf. »Wie viel schmeißt du eigentlich für so was aus dem Fenster?«, fragte sie.
»Sei nicht so kackvornehm. Dir wird es auch gefallen.«
»Ist es in Ordnung, wenn wir zuerst noch die Nachrichten sehen? Um wenigstens einen Fuß auf dem Boden der Realität zu haben, ehe wir in diese Kitschsuppe springen?«
Line lachte und hob ihr Glas in einer zustimmenden Geste.
Inger Johanne schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung ein und erwischte gerade noch die letzten Sekunden der Erkennungsmelodie. Die erste Textzeile war wie erwartet: Bischöfin Eva Karin Lysgaard auf offener Straße ermordet – Polizei noch immer ohne Spuren …
»Was?«, fragte Line und riss den Mund auf, ehe sie sich gerade setzte. »Sie ist ermordet worden? Was um alles in der Welt … «
Sie nahm die Beine vom Sofa, stellte das Glas auf den Tisch, stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor.
»Das ist den ganzen Tag im Fernsehen und im Radio wiederholt worden«, sagte Inger Johanne. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«
»Skilaufen«, sagte Line Skytter. »Ich habe gestern Abend gehört, dass sie tot ist, aber nichts davon, dass es … pst!«
Der Nachrichtensprecher Christian Borch trug einen dunklen Anzug und war sehr ernst. »Die Polizei bestätigt heute, dass die Bischöfin von Bjørgvin, Eva Karin Lysgaard, am Abend des 24 . Dezember ermordet worden ist. Gestern wurde der Tod von Bischöfin Lysgaard bekannt gegeben, die Umstände des Todes wurden jedoch erst in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages veröffentlicht.«
Das Bild wechselte vom Studio auf ein verregnetes Bergen, wo ein Reporter den Fall zusammenfasste, was im Grunde zwei Minuten leeres Gerede bedeutete.
»Ist Yngvar deshalb nicht in Oslo?«, fragte Line und dreht sich zu Inger Johanne um.
Die nickte nur kurz.
»Soweit bisher bekannt ist, hat die Polizei noch keine Spuren.«
»Was bedeutet, dass sie jede Menge Spuren haben«, sagte Inger Johanne. »Ohne irgendeine Ahnung davon, wohin die führen.«
Line brachte sie zum Schweigen. Stumm verfolgten beide den ganzen Bericht, der wohl zwölf Minuten dauerte. Diese ungewöhnliche Länge lag nicht nur daran, dass es wie üblich an den Weihnachtstagen nur wenige Neuigkeiten gab. Das hier war etwas Besonderes. Man konnte das allen ansehen, die interviewt wurden, der Polizei, den Geistlichen, den Politikern, den befragten Passanten auf der Straße, alle waren auf eine Weise betroffen, die Norweger in der Öffentlichkeit eigentlich nicht zeigen. Vielen versagte die Stimme. Einige brachen während des Interviews in Tränen aus.
»Das ist fast wie damals bei König Olaf«, sagte Line und schaltete den Fernseher aus.
»Na ja, der ist doch an Altersschwäche gestorben, schön in seinem Bett.«
»Ja, das schon, aber die … Stimmung irgendwie. Wer in aller Welt könnte denn so eine Frau umbringen? Sie war doch so … lieb, irgendwie. So gut.«
Inger Johanne fiel ein, dass sie zwei Tage zuvor fast genauso reagiert hatte. Eva Karin Lysgaard hatte nicht nur wie ein guter Mensch gewirkt, sie hatte offenbar auch beträchtliche diplomatische Fähigkeiten besessen. Theologisch gesehen hatte sie sich ungefähr in der Mitte des bunten Bildes aufgehalten, das die Norwegische Staatskirche bot. Sie war weder sonderlich radikal noch sonderlich konservativ. In der Frage der Homosexualität, die die Kirche seit so vielen Jahren umtrieb und die Norwegen immer weiter auf ein konfessionsneutrales Grundgesetz hintrieb, war sie die Hauptarchitektin hinter dem brüchigen Friedensvertrag gewesen: Es sollte Platz für beide Ansichten geben. Zugleich hatte sie energisch für das Recht ihrer Gegner gekämpft, das genaue Gegenteil zu vertreten. Bischöfin Lysgaard wirkte offen und zugänglich, eine typische Vertreterin der Anhänger einer breiten volkstümlichen Staatskirche. Was sie nicht war. Im Gegenteil, die unvollkommene Unabhängigkeit der Kirche von staatlichen Weisungen erweckte in ihr starke Bedenken, und sie ließ sich kaum eine Gelegenheit entgehen, um für ihre Sicht der Dinge zu argumentieren.
Immer freundlich, immer ruhig. Mit einem vielsagenden
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