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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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haben.«
    »Sie war …«
    Lukas hielt sich die Faust vor den Mund und räusperte sich. »Sie war zweiundsechzig Jahre alt. Da kann man wohl kaum erwarten, dass sie gegen einen Mörder sehr viel ausrichten konnte.«
    Er hustete noch einmal, dann fügte er rasch hinzu: »Oder gegen eine Mörderin. Ich gehe davon aus, dass es auch solche gibt.«
    »Auf jeden Fall  … «
    Yngvar nickte und spielte mit dem Gedanken, den Ordner wieder an sich zu nehmen. Sie schwiegen ein wenig zu lange. Es wurde peinlich, und Yngvar merkte, dass Lukas Lysgaards wenig freundliche Haltung sich über Nacht kaum geändert hatte. Lukas Lysgaard starrte die Tischplatte an und hatte die Arme verschränkt.
    »Meine Frau ist Kriminologin«, sagte Yngvar plötzlich. »Und Juristin. Und sie hat Psychologie studiert.«
    Jetzt schaute Lukas immerhin auf. Eine überraschte Falte zeigte sich über seiner Nasenwurzel.
    »Sie ist um einiges jünger als ich«, fügte Yngvar hinzu.
    Weder der halsstarrigste Zeuge noch der feindseligste Festgenommene blieben unberührt, wenn Yngvar fast übergangslos anfing, von seiner Familie zu erzählen. Es wirkte so unprofessionell, dass der Vernommene irritiert war, überrascht oder ganz einfach interessiert.
    »Sie sagt bisweilen …«
    Yngvar hob die Tasse und trank langsam und geräuschvoll. »Sie will lieber, dass ihre Nächsten an einer langen und schmerzhaften Krankheit sterben, als dass sie einem Verbrechen zum Opfer fallen.«
    Kaum hatte er das gesagt, da verspürte der den vertrauten Stich schlechten Gewissens, weil er Inger Johanne Ansichten unterstellte, die sie überhaupt nicht hatte. Der Stich legte sich, als er Lukas’ Reaktion sah.
    »Was meint sie … Was meinen Sie damit? Es ist doch entsetzlich, jemandem, den man liebt, so etwas zu wünschen, und …«
    »Ja, nicht wahr? Das sehe ich genauso wie Sie. Es geht ihr aber darum, dass die Familie des Opfers nach einem Verbrechen notwendigerweise zum Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen wird, und das kann eine gewaltige Belastung sein. Wenn jemand aus anderen Ursachen stirbt, dann …«
    Yngvar hob beide Handflächen. »… ist alles vorüber. Die Familie wird mit Sympathie überschwemmt und es werden keine Fragen gestellt. Ganz im Gegenteil, behauptet meine Frau hartnäckig. Natürliche Todesfälle üben eine versiegelnde Wirkung auf die möglicherweise vorhandenen Familiengeheimnisse aus. Sind der oder die Tote jedoch einem Verbrechen zum Opfer gefallen, dann …«
    Er schüttelte gutmütig den Kopf und steckte einen imaginären Schlüssel in ein unsichtbares Schlüsselloch. »Dann muss alles ans Licht. Das meint sie damit. Ich stimme ihr nicht zu, wie gesagt, aber so ganz unrecht hat sie auch wieder nicht. Oder?«
    Lukas zeigte durchaus nicht, ob er dieser Meinung war oder nicht.
    »Ich gehe davon aus«, sagte er plötzlich und beugte sich über den Tisch, »dass Sie mir zu sagen versuchen, dass es in meiner Familie Geheimnisse gibt, die erklären könnten, warum meine Mutter auf offener Straße erstochen wurde?«
    Seine Stimme schlug zum Ende des Satzes ins Falsett um. »Dass sie sozusagen selbst schuld war! Dass meine Mutter, die liebste, fürsorglichste …«
    Seine Stimme versagte gänzlich und er fing an zu weinen. Yngvar saß ganz still da, hielt die Kaffeetasse in der rechten Hand und ließ einen Kugelschreiber zwischen Zeigefinger und Mittelfinger der linken balancieren.
    »Mutter hatte doch keine Geheimnisse«, sagte Lukas verzweifelt und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht meine Mutter. Sie nicht.«
    Yngvar sagte noch immer nichts.
    »Meine Eltern haben einander über alles geliebt«, sagte Lukas jetzt. »Sie hatten sicher ihre Meinungsverschiedenheiten, aber sie haben schon mit neunzehn Jahren geheiratet. Das macht …«
    Er schluchzte, während er in Gedanken nachrechnete. »Das macht über vierzig Jahre. Sie sind seit über vierzig Jahren verheiratet, und jetzt kommen Sie und behaupten, zwischen ihnen habe es jede Menge Geheimnisse gegeben. Das ist … das ist …«
    Yngvar machte einige Notizen, dann schob er seinen Notizblock so energisch zurück, dass der zu Boden fiel. Er hob ihn auf und legte ihn mit der beschriebenen Seite nach unten wieder hin.
    »Das ist unverschämt«, sagte Lukas tonlos. »Anzudeuten, meine Mutter hätte …«
    »Es tut mir wirklich leid, wenn Sie mich für unverschämt halten«, sagte Yngvar. »Das wollte ich nun wirklich nicht. Aber es ist schon interessant, dass Sie sofort

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