Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
lenken. Vor allem aber machte dem öffentlich bislang nicht Hervorgetretenen die Lektüre des»Benzmann« Mut: Dichter wollte er werden.
Innerste Ergriffenheit, tiefes Erleben, heilige Wahrhaftigkeit
, las er im Vorwort, und daran wollte er sich wie jeder Lyriker messen lassen, dessen »Empfinden natürlich auch auf den letzten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basiert«. 11 »Nicht das Häßliche, Perverse, Grausenerregende, nur das Verlogene, Unehrliche, Unfreie, das Nachempfundene, Nachgemachte, Konventionelle ist zu verwerfen … Nicht jede Kunst ist für jeden. Fühlen, Schaffen, Genießen und Urteilen ist vielmehr im höchsten Grade subjektiv, ist Triebleben.« 12
Diesem Willen zum höchsten Grad der Subjektivität, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis stehen sollte, stand freilich immer noch der Wille des Familienoberhauptes und Vaters gegenüber. Der wollte dem ältesten seiner Söhne eine Ausbildung ermöglichen, die einerseits seinem Weltbild entsprach, andererseits aber die Familienkasse in einer Weise schonen würde, die Gottfrieds Brüdern dasselbe Recht einräumte. Je länger der Konflikt schwelte, desto hartnäckiger wurde der Sohn. Längst war die Liebe zum Vater durch das Gefühl übermächtiger Autorität und daraus resultierenden Hass überlagert.
Keiner sollte sich Sorgen um ihn machen! Keiner sollte Gebete für ihn sprechen müssen! Das, was er in sich fühlte, ließ sich nicht austreiben. Wenn es ihm jetzt nicht gelänge, sich zu befreien, würde er ein Leben lang klein bleiben. Dann würde er es auch nicht verdient haben, sich Künstler nennen zu dürfen. Aus diesem Grund und um sich in seinem Kampf bestärken zu lassen, schickte er im Februar 1905 einen Stapel Gedichte an den (»Benzmann«-)Lyriker und Literaturkritiker Carl Busse, nachdem er in »Velhagens & Klasings Monatsheften« eine Besprechung von Peter Hilles
Gesammelten Werken
aus dessen Hand gelesen hatte.
Jetzt aber sehe ich mit Grauen den Moment kommen, wo ich müde des Kampfes bin, wo ich indifferent werde u. wo ich voll bitterer Skepsis und rohen Kynismus werde, wo alles alles zusammenbricht zu einem großen Trümmerhaufen von Empfindungen, … Ich habe mir vorgenommen, in mir einen kleinen jüngsten Tag zu arrangieren u. Echtes u. Falsches zu trennen. Und nun richte ich an Sie die Frage: nicht, sind meine Gedichte originell, schön, druckreif etc., sondern finden Sie in den Sachen ein Stück Künstlerseele … dann habe ich ein Recht an die Kunst, ein Recht zu dieser blutigroten heidnischen Sehnsucht, dann darf ich vor meinen Vater treten u. sagen: Gib mich frei aus den Banden, die du durch Religion u. Kirche um mich geschlagen hast, ich will meinen eigenen Gott mir suchen und du mußt mich doch lieb behalten. 13
Busses Antwort kennen wir nicht. Aber egal, wie sie ausgefallen sein mag, nur wenige Wochen später wendete sich das Blatt und, zumindest was Gottfrieds Berufsausbildung betraf, führte sein »jüngster Tag« dazu, dass Echtes von Falschem getrennt wurde. Bereits früh erwies sich, dass Benn nicht der Mann der kleinen Schritte war, wenn er glaubte, in eine Sackgasse geraten zu sein. Weder saß er je eine Lebenssituation aus, noch wartete er auf Chancen. Konstitutionell drängte alles in ihm nach »jüngsten Tagen«, selbst wenn sie Zusammenbrüche zur Folge hatten, selbst wenn sie ihn erst vor den Trümmern der Existenz haltmachen ließen.
Die Geschichte einer Jugend
Doch zurück ins Jahr 1908. Es war das Jahr, in dem mit dem »Modell T« das erste für den Massenverkauf produzierte Auto die Montagehalle in Detroit verließ und in Persien die ersten Ölfelder erschlossen wurden. In Berlin »flitzten die Autobusse in voller Tour«, die Straßenbahnen »knarrten und die Schienen kreischten«. »Es war in der schönen, sonnenreichen Kaiserzeit«, 42 als Gottfried zu Beginn des sechsten Semesters – er war gerade 22 Jahre alt geworden und hatte vor den Ferien das Physikum mit der Gesamtnote »gut« bestanden – aus der Akademie auf die Friedrichstraße stürzte. Er eilte hinter seinem Kommilitonen Georg her und fragte den Korpsstudenten, ob er ihn begleiten dürfe. Er habe ein Rencontre gehabt und brauchte Ehrenschutz. Sogar eine schöne Frau mit dunklen Augen, die hinter ihnen in der Carlstraße verschwand, habe er missachtet. Dem akademischen Markenzeichen der Mensur stand Gottfried als etwas ganz Selbstverständlichem gegenüber und akzeptierte es als unverzichtbares Mittel der
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