Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Methode sich so prägnant zusammenfassen ließ: »Nur die Erfahrung, die Beobachtung ist maßgebend.« 57 Mit der derselben Rigidität wird in dem im folgenden Frühling geschriebenen
Gespräch
Thom seinen Widersacher Gert ästhetisch in die Schranken weisen:
Sieh mal, wenn man heutzutage von jemandem sagt: der macht Gedichte oder schreibt Novellen, so ist das beinahe so, als ob man sagte, er habe einen unreinen Teint. Das kompromittiert seinen Geschmack und stellt seine Lebensart in Frage. Wenn man es aber doch nicht lassen kann, bleibt nur die Zuflucht, die Dinge und Geschehnisse auf ihren rein tatsächlichen Bestand zurückzuführen, sie auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. 58
Wahrscheinlich erwähnte Theodor Ziehen am Ende der Stunde, dass vor den Ferien von der medizinischen Fakultät die Aufgabe für den »Königlichen Preis« des kommenden Jahres gestellt worden war: »Die Ätiologie der Pubertätsepilepsie«. Das Thema fiel in sein Fachgebiet, und er wird zweifellos gehofft haben, dass mehr als zwei seiner Studenten eine Arbeit einreichen würden. Eine der beiden Arbeiten kam aufgrund gravierender Mängel für die Erteilung des Preises nicht in Betracht, und die andere, nämlich Benns, hätte aufgrund eines Formfehlers eigentlich nicht angenommen werden dürfen, waren doch die Studenten der Militärakademie zur Bewerbung eigentlich nicht berechtigt.
Benn wandte sich »zu diesem Zweck nach der städtischen Anstalt für Epileptische, Wuhlgarten; und Herr Direktor Dr. Hebold hatte die Güte, mir zu gestatten, die Krankengeschichten der zur Zeit Internierten durchzuarbeiten.« 59 Der Gutachter der Arbeit bescheinigte dem Verfasser, zu einzelnen interessanten Ergebnissen gelangt zu sein, doch habe er sich den Weg zu noch weiteren und wichtigeren Ergebnissen versperrt. Trotz der offensichtlichen Bewerbungspanne und weil der Preis wohl nicht unvergeben bleiben sollte, erhielt ihn Gottfried Benn »mit Genehmigung des Herrn Unterrichtsministers«. Anstatt der goldenen nahm er eine Medaille aus Kupfer und ließ sich den Wert des Goldes in barer Münze in Form von 200 M. auszahlen.
Die ersten Lorbeeren, die der Mediziner Benn erntete, waren dem Studium von Krankengeschichten und der neuartigen Methode des Kollegen Emil Bratz aus Wuhlgarten geschuldet, »die einzelnen ätiologisch in Betracht kommenden Momente prozentualiter gegeneinander abzuwiegen im Hinblick auf ihre wahrscheinliche, empirisch abschätzbare ätiologische Wirksamkeit hin«; 60 die ersten Erfahrungen, die er mit Patienten und ihren Krankheiten machte, waren dagegen weniger glücklich.
Als der Komponist und Verleger Herwarth Walden – ursprünglich hieß er Georg Lewin und war seit 1903 mit Else Lasker-Schüler verheiratet, der er auch sein populäres, in Anlehnungan Thoreaus
Walden
-Roman gewähltes Pseudonym verdankte – im März 1910 in Berlin das erste Heft des neuen Sprachrohrs der jungen Generation
Der Sturm
erscheinen ließ, famulierte Benn wieder. Aus einer Klinik in Treysa bei Kassel beglückwünschte er seinen Freund Koenigsmann dazu, niemals so idiotisch gewesen zu sein, eine Vertretung angenommen zu haben.
Du bist eine komische Figur besonders vor dir selbst. Aber abgesehen davon, habe ich das Gefühl, mich angesteckt zu haben, wovon weiß ich noch nicht; aber ich fühle mich saudreckig u. opferte eine Hekatombe, wenn ich jetzt heil in Berlin säße. 61
Gerade habe er seine erste Eiterbeule eigenhändig gespalten, jedoch derart, dass dem Patienten eine Sepsis sicher sei, während er selbst die Folgen der Ansteckung, bei der es sich um eine Streptokokkeninfektion gehandelt haben dürfte, kurze Zeit später wieder überwunden hatte: »Das Gift hat sich ausgetobt, ohne daß eine acute Carditis sich angeschlossen hat.« 62
Im Sommersemester 1910 stand – bis auf die sonntäglichen Ausflüge in die Strandbäder am Ufer des Langen Sees in Grünau 63 oder am Wannsee – auf Benns Studienplan das Schreiben der Dissertation, für die er sich in Wahrheit jedoch überhaupt nicht mehr interessierte. Wie bereits in seiner preisgekrönten Schrift studierte er Krankenakten und stellte, so der Referent Professor His, »die in den letzten 10 Jahren beobachteten Fälle statistisch und nach den aetiologischen Momenten zusammen. … Die Statistik ist als solche nicht ohne Werth, die litterarische Verarbeitung aber recht kärglich, und es darf die Arbeit aber als genügend (3) bezeichnet werden.« 64 Nicht nur die
litterarische
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