Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
Verteidigung seiner Ehre. Durch »Pauken« ließ sich auf jeden Fall Ansehen gewinnen. Zweifellos wollte auch er ein Mitglied der wilhelminischen Satisfaktionsgesellschaft sein, und die markanten Züge dieser Prägung, die gewisse Vorliebe für dickfellig nach außen hin demonstrierte Kälte, Härte und Mitleidlosigkeit, sollte er auch niemals mehr ablegen. 43
Ich erinnere mich, daß wir jüngeren Geschwister zu den Weihnachtsferien nach Hause kamen und unser Vater uns in sein strenges Arbeitszimmer rief: »Ich muß Euch etwas sehr Trauriges mitteilen; Gottfried hat wieder eine Mensur gehabt, mir ist das vor der Gemeinde sehr unangenehm. Er wird also wohl zu Weihnachten nicht nach Hause kommen.« Am nächsten Tage aber kam er doch mit gut verschmierter dicker Narbe: Ballins Säbel hatte einen vortrefflichenDurchzieher gelandet, der den Knochen links vom Auge getroffen, das linke Augenlid verletzt und die Nase halb durchschlagen hatte. Gottfried lächelte in Vaters bestürztes Gesicht: »Ich habe schon den Lehrer Wilke getroffen und ihm erklärt, daß ich bei der Glätte ausgerutscht und mit dem Gesicht auf einen Fußabkratzer gefallen bin.« Ich erinnere mich noch deutlich an Vaters verstörtes Gesicht, mit dem er schweigend den Schwindel der »Schande« vorzog. 44
Das war Gottfried Benn. Angehender »Arzt, mittelgroß, von gesunder Konstitution, linkes Augenlid hängt leicht herunter«, 45 allerdings nicht weil er sich für seine Umwelt nicht interessierte, sondern weil ihm – wenn wir dem Bruder Glauben schenken – sein Zimmernachbar einen »vortrefflichen Durchzieher« gelandet hatte, der dem linken Augenlid einen irreparablen Schaden zufügte, während die Verletzungen der Gesichtshaut, die er nicht zum ersten Mal mit nach Hause brachte, verheilten und in eine der Geschichten eingingen, die er seiner kleinen Schwester Edith erzählte, in die Geschichte vom Onkel, der im Walde lebte, vom Onkel ohne Haut. 46
Wie jedes Jahr verbrachte Gottfried Benn auch diesen Sommer in Mohrin.
Ich habe seit drei Wochen mutterseelen allein frei Haus. Ich habe Zeit und Ruhe und arbeite doch nichts. Ich gebe mich mit vier Rs ab: mit Romanen, mit Religion, mit Rudern, mit Reimen. z. b. Herbstglück:
Man lebt wie unter einem Zelt.
Es geht jetzt um sehr stille Dinge,
Um Astern und um Schmetterlinge
Und ein verdorrtes Blumenfeld.
Das Zarteste ist jetzt entflammt
Zum Leben mit erhöhten Sinnen,
Und will aus feinen Fäden spinnen
Sich einen violetten Samt.
Wir Seelen leben solches mit:
Ein reifes Wort von fern ein Grüssen
Kann unsere Tage mehr versüssen
Als einst ein Glück, um das man stritt.
u. s. w.
Und noch Eins: neulich kam an meinen abwesenden Vater ein Schreiben von der Akademie. Ich, sehr erstaunt, schlechten Gewissens, irgend was von Alimentationsklage oder dergl. fürchtend, eröffne das Schreiben: die Acad teilt ergebenst mit, daß sie mir eine Extra-Unterstützung von 50 M. gewährt. Hast du Töne? Ich war baff. 47
Tatendurstig plante er seine Zukunft:
Ich werde energisch an die Herausgabe meiner bisherigen Werke schreiten und vorläufig ein Gedichtbuch: Herbst oder Wellen oder Hütte rausgeben. Es werden Schmeißfliegen, ein Hoden und viele Blumen darin vorkommen. 48
Es ist der erste überlieferte Brief während der Zeit des Medizinstudiums, und er zeigt, dass aus dem gehemmten, pubertierenden Philologiestudenten, der noch vor wenigen Jahren, mit sich selbst und seinem Vater im Unreinen, vor einer ungewissen Zukunft gestanden hatte, ein selbstbewusster, sein Schicksal in beide Hände nehmender erwachsener Mann geworden war, dem man das, was er dichtete – »es geht jetzt um sehr stille Dinge« –, kaum abnehmen mag. Abgesehen von dem immensen Arbeitspensum, das ihm in der zweiten Studienhälfte abverlangt wurde, erfährtman in dem bislang unveröffentlichten Brief, dass er umziehen wollte, um »in Bellevue mein Lager für den Winter aufzuschlagen. Man wohnt in unserem bisherigen Viertel doch zu schofel. Geschlechtsverkehr weder ehelicher noch außerehelicher« 49 sei erlaubt. Andere Werte, die man sich auf die Fahnen geschrieben hatte, waren die »des Idealismus, der Religion, des Deutschtums, der Wissenschaft, der mietbaren Ballons« 50 – also des technischzivilisatorischen Fortschritts. Wie die ganze Berliner Bevölkerung stand Benn unter dem Eindruck des unmittelbar bevorstehenden Ereignisses, das den Beginn der zivilen Luftfahrt markierte – am 29. August 1909 sah
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