Gottlose Küsse (Vampirgeschichten)
vorsichtig, um vielleicht endlich
etwas mehr über ihn und seine Welt zu erfahren– eine Welt, die ich nie gewagt habe, zu betreten -,
„aber dieser Geist ist gefangen in einem vergänglichen Körper, der jeden Tag ein Stück mehr
verfällt. Ihr dagegen seid unsterblich, und darum beneiden wir euch.“
Er scheint zu überlegen. „Das stimmt. Aber unser freier Geist ist gefangen in ewig ein und
demselben Körper. Wir können niemals wiedergeboren werden. Viele von uns verzweifeln und
wählen das Erlöschen in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Diejenigen, die ihr Schicksal
akzeptiert haben, sind Beobachter der Zeit und erleben die Geschichte eures Planeten mit, aber
davon gibt es nur wenige. Ihr Ende ist die vollständige Vernichtung am Ende aller Tage.“
Ich hänge eine Weile meinen Gedanken nach.
„Ich bin froh, dass ich dich habe“, fügt er noch hinzu. Dankbarkeit klingt daraus. Er legt
seinen Arm um mich und beugt sich zu mir, wie um mich zu küssen. Ich genieße diesen Augenblick
und lasse ihn gewähren. An den Schmerz bin ich gewöhnt. Ob es wohl noch andere gibt wie mich?
Eigentlich gehöre ich nirgendwo mehr hin, weder zu den Menschen, noch ganz zu ihnen. Wir
haben damals einen stillen Pakt geschlossen. Er erhält jede Woche einen Teil von meinem
Lebenssaft und schenkt mir dafür einen Hauch seiner eigenen Unsterblichkeit. Nur einen Hauch,
denn er hat mich weder getötet, noch gewandelt. Es macht mir nichts aus, sein Wirt zu sein.
Das war auch der Grund, warum ich damals aus der Stadt fortgezogen bin. Ich bin schon so
oft umgezogen! Hier draußen habe ich Ruhe vor den aufdringlichen Blicken und dummen Fragen.
Ja, ich bin immer noch 28 Jahre alt und das seit fast 100 Jahren!
* * *
Süsses Blut
Lessandro wurde von dem süßen Duft der Unschuld angelockt. Er witterte es, wenn jemand
auf die andere Seite wollte, und Selbstmörder waren seine bevorzugten Opfer. Ihre Verzweiflung,
ihre Hoffnungslosigkeit zogen ihn geradezu magisch an und ließen sein eigenes Herz schneller
schlagen. Auch in dieser Nacht war es nicht anders.
Die Gedanken, die er empfing wie eine Fledermaus den Ultraschall, waren dunkel und voller
Verzweiflung. Jemand rief nach ihm. Jemand ganz besonderes.
Die gerade erst siebzehnjährige Delia stand am Rande des Dachgartens der eleganten
Penthouse-Wohnung ihres Vaters und blickte in die Augen der hell erleuchteten Stadt unter ihr. Ihre
Einsamkeit hatte sie hinaus getrieben. Ihr Vater– ein hochrangiger Diplomat – war wieder einmal
auf Reisen. Das war er die meiste Zeit im Jahr. Ihr Kontakt bestand meist aus Emails oder Anrufen,
oder den kleinen Geschenken, die er ihr ab und zu aus den fremden Ländern schickte.
Die Wirtschafterin, die sich seit dem Tod ihrer Mutter um die häuslichen Belange kümmerte,
war schon seit Stunden gegangen. Und vor zwei Tagen hatte Delias Freund sie wegen einer anderen
im Streit verlassen. Sie wollte ihm noch nicht geben, was er verlangte.
Lessandro hatte den Teenager mit den lockigen, rotbraunen Haaren und den tiefbraunen,
traurigen Augen schon lange beobachtet.
Er kannte sie aus der alten Internatsschule, einem schlossähnlichen Gebäude, weit außerhalb
der Stadt. Dort fand er immer was er suchte; frisches, süßes Blut.
Doch er hatte schon lange nicht mehr getötet, er nahm nur so viel vom Lebenssaft seiner
Opfer, dass diese oft tagelang müde und erschöpft waren. Das war keine Seltenheit bei jungen
Mädchen in der Pubertät, und seine Bisswunden waren nicht so tief, das sie nicht nach einigen Tagen
spurlos verheilten. Er hatte die Angewohnheit, seine Opfer nicht unbedingt immer in den Hals zu
beißen, schließlich gab es genug verführerische Stellen, wo das Blut direkt unter der Haut pulsierte.
Die jungen Dinger bekamen davon nichts mit, außer der Müdigkeit, den Kopfschmerzen und der
Erinnerung an einen langen Alptraum am Morgen danach.
Delia war eines der wenigen Mädchen, die sich stets etwas abseits vom Getümmel hielten.
Sie war eine Einzelgängerin, obwohl sie ausnehmend hübsch anzuschauen war. Aber sie galt als
Streberin, denn sie lernte gerne
und war deshalb nicht sehr
beliebt bei den modeund
trendverrückten Mädchen ihrer Schule. Richard war Delias erster Freund und einer der beliebtesten
Jungen an der Schule gewesen, doch die Beziehung hielt nur wenige Wochen. Sie wurde schnell
uninteressant für ihn, als er sein Ziel nicht erreichte. Schließlich gab es genug willige Opfer, die sich
für seinen durchtrainierten Körper
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