Gottlose Küsse (Vampirgeschichten)
Gefühl hatte, mein Kopf würde explodieren. Ich schwitzte nicht einmal,
aber ich beschloss trotzdem, in Zukunft nur noch nachts zu arbeiten solange ich in dieser verfluchten
Stadt weilte.
Wieder setzte ich meine Sonnenbrille auf, begab mich zum Wagen und fuhr los. Vorbei an
den alten Südstaatenhäusern mit den schmiedeeisernen Balkonen, den verwinkelten Gassen, den
winzigen Bars im French Quarter, aus denen überall Musik erklang. Diese Stadt besaß eine ganz
eigenartige Atmosphäre, fremd und doch vertraut. Sie weckte die Sehnsucht in mir, immer weiter zu
fahren. Schließlich landete ich auf dem Lafayette Friedhof. Ich hatte schon viel davon gehört und
wollte mich dort einmal umschauen. Es war still, kein Vogelgezwitscher in der Mittagshitze. Nur ein
paar Fliegen summten.
Ziellos wanderte ich umher, an den alten Grabsteinen vorbei, von denen viele aus dem letzten
Jahrhundert stammten. Eine alte, ganz in Schwarz gekleidete Frau ging eilig an mir vorbei, blickte
zu Boden und bekreuzigte sich. Sie muss wohl von dem frisch aufgeworfenen Grab dort hinten
gekommen sein. Die Blumen darauf waren schon halb verblüht. Ich trat näher. „Charles M. Gifhorn“
stand da auf dem provisorischen Holzkreuz. Das war doch mein Name? Konnte es solche Zufälle
geben?
Einige Minuten starrte ich auf den Grabhügel. Langsam begann ich, mich zu erinnern: Ich
war vor zwei Tagen gestorben. Bei meinem letzten Kneipenbesuch begegnete ich einem dieser
dunkelhäutigen Engel der Nacht.
Eigentlich wollte ich ja zurück in mein Hotel, meinen Artikel zu Ende schreiben, doch die
Lady hängte sich gleich an mich dran. Ich hätte nicht so viel trinken sollen! Sie zog mich mit sich
fort in eine dunkle Seitengasse. Ja, jetzt erinnerte ich mich wieder an diesen gierigen Blick in ihren
Augen. Doch ihre Küsse schmeckten süß, zu süß. Mit dem letzten hat sie mir das Blut ausgesaugt.
Jetzt fiel mir auf, dass ich den ganzen Tag noch keine Nahrung zu mir genommen hatte. Und
ich verspürte einen brennenden Durst. Ich lächelte still in mich hinein. Alles war auf einmal so
einfach. Sobald die Sonne untergegangen war, würde meine Verwandlung endgültig abgeschlossen
sein. Zeit für einen Zug durch die Gemeinde.
* * *
Symbiosis
Die Dämmerung bricht herein, und ich blicke über ein Meer von Farben. Es sind die Farben
des Sommers, alles steht in voller Blüte und es duftet herrlich nach Rosen, Lavendel und frischen
Kräutern. Von der See her weht eine leichte, salzige Brise herüber. Das Rufen der Möwen und
Kiebitze verstummt langsam und zurück bleibt das Wiegenlied der Wellen.
Wie jede Woche um die gleiche Zeit warte ich. Im Sommer sitze ich gerne hier draußen auf
der Veranda in meinem Garten.
Vor vielen Jahren bin ich hierher gezogen in das kleine, einsam gelegene Haus an der Küste.
Das macht es einfacher als in den Mietskasernen. Man braucht neugierigen Nachbarn nicht so viele
Erklärungen abzugeben. Hier leistet mir nur eine Katze Gesellschaft.
Wie gesagt, ich warte. Die Sonne versinkt wie in Zeitlupe mit einem glühenden Gruß an die
hereinbrechende Nacht am Horizont. Die unsichtbare Tür zwischen den Welten öffnet sich, und ich
spüre einen leichten Luftzug auf meiner Wange, wie das Streicheln von lautlosen Eulenflügeln.
Mein Herz macht einen Sprung vor Freude. Er kommt immer um diese Zeit. Ich kenne nicht einmal
seinen Namen, aber ich freue mich immer über sein Erscheinen. Ohne ihn möchte ich nicht mehr
sein.
Die Menschen, die ich einmal geliebt habe, sind längst gegangen. Die anderen um mich
herum sind mir gleichgültig geworden. Mein Leben wäre leer ohne seine regelmäßigen Besuche, die
ich voller Sehnsucht erwarte. Wir reden oft miteinander – über Gott und die Welt– meistens über
die Welt. Er hat mich einmal gefragt, warum ich nicht gehen möchte von dieser Erde. Dabei bleibe
ich nur wegen ihm. Ich glaube, er weiß das. Dabei kann ich das Gefühl nicht einmal beschreiben, das
ich für ihn empfinde.
Wie ein kühler Abendschatten nimmt er neben mir Platz auf der Bank. „Du weißt, ich muss
dich das fragen“, begann er leise unser Gespräch. Ich nicke nur, wie jedes Mal.
„Es ist mein freier Wille“, antworte ich, wie jedes Mal. Es ist fast zu einem Ritual geworden.
„Willst du wirklich weiterhin gefangen bleiben in diesem Körper?“, fragt er. Seine warme,
volle Stimme klingt fast besorgt. Sie erinnert mich an einen Opernsänger.
„Alle Menschen haben doch einen freien Geist“, beginne ich
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