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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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gut erhalten. Im Lampenlicht schimmert einer der winzigen Stalaktiten milchweiß, an seinem hohlen Ende hängt ein Tropfen. Gebläht wie eine Froschblase. Gläsern, märchenhafter Höhlentau, und in seiner feuchtglänzenden Tiefe angefressene Blumen und bizarre, splitterbesetzte Nadeln aus Kalk.
    Stumm staunt Mauser über die Formen.
    Kristallwelt.
    Der Tropfen wächst und fällt ab.
    Sacht wölbt sich ein neuer, naß über dem brüchigen Schlund. Gehalten von hauchdünner Haut. Eine Höhlengeburt.
    Mauser holt den Klappspaten aus dem Rucksack und beginnt, die Wölbung am Boden aufzugraben. Knirschend schiebt sich die scharfe Schaufelkante durch die dünne Sinterschicht in den Lehm. Er muß die gesamte Röhre freischaufeln, die sacht ansteigt. Nach drei Metern durchstößt er die Schicht, hier macht die Röhre einen Knick nach oben. Sorgfältig schält er einen Schluf frei und kann sich hindurchdrücken. Schwierige Übung, denn der Spalt ist gerade mal schulterbreit, und hinter dem Knick folgt gleich ein Kriechgang. Dessen Lehmboden ist unberührt, keiner ist je hier gewesen.
    Der Gang mündet in einer kleinen Kammer, gerade hoch genug zum Aufrechtstehen. Wände, Boden und Decke sind mit einer dicken Lehmschicht verkleidet. Mauser schaut sich um. Die Kammer hat muffige Luft, wer weiß, denkt Mauser, wie lange die schon hier drin steht.
    Mauser spürt die Stille. Hier ist etwas aufbewahrt worden, denkt er. Für mich. Eine Vergangenheit ist gegenwärtig, seit Jahrzehnten stumm, die jetzt zu sprechen anfängt.
    Mauser geht gebückt die Kammer ab und sieht im hinteren Teil, wo sich der Boden senkt, etwas liegen. Etwas, das nicht hierhergehört. In Höhlen gehört außer Stein, Dreck und Dunkelheit nichts her.
    Aber deutlich liegt dort, im Lampenlicht, ein Mensch.
    Er liegt ausgestreckt, die Arme ordentlich an den Körper gelegt.
    Er schläft.
    Er trägt einen Anzug. Einen schwarzen Anzug, wenn das Licht nicht täuscht, eine Krawatte und ein weißes Hemd. Das Jackett ist zugeknöpft und sauber, kein bißchen Dreck, als hätte der Mensch nicht zwanzig Meter durch die Eingeweide des Weißjura kriechen müssen, um hierherzukommen.
    Mauser tritt vorsichtig näher, als wollte er ihn nicht wecken. Dann erschrickt er. Das grelle Licht entblößt das Gesicht, ein verdorrtes, ledriges Gesicht wie von einer Schneiderpuppe. Die Kleider scheinen das Echteste an ihr.
    Dieser Mensch.
    Und plötzlich spürt Mauser eine Anwesenheit: sein Vater, gestorben vor über dreißig Jahren. Kommt aus der Vergangenheit hierher wie zu Besuch, Mauser fühlt ihn ganz nahe und die vergangene Zeit, die er mitbringt. Mauser ist kein Spiritist, aber eine Ahnung kommt ihn an, hier in den Tiefen des Gesteins, eine Vorahnung von Nachrichten und Geschehnissen aus einem Damals, das längst tot ist. Eine Zeit, in der der Vater gekämpft, gelitten, standgehalten hat. Was hat aber dieser tote Mensch mit seinem Vater zu tun?
    Irgendjemand, geht es Mauser durch den Kopf, hat diesen Menschen in Anzug und Krawatte hierhergelegt, damit er wie eine Puppe aussieht und ich, Mauser, mich an diesem sonnigen Aprilmorgen an ihm erschrecke.
    Aber niemand kann hier gewesen sein. Es gibt keinen Zugang.
    Aus den Ärmeln ragen klein und hutzlig die Hände.
    Mauser setzt sich ratlos in den Lehm.
    Je länger er sitzt, desto unerträglicher wird die Stille. Die Zeit ist hier verwahrt wie Grundwasser in Gesteinsbecken. Manchmal tritt es herauf aus dem Grund, ist auf einmal da, der Brunnen beginnt zu laufen. Hier wird etwas überquellen, wird zutage treten, ein Geschehen, das niemand absehen kann. Mauser ahnt es, er weiß nicht woher.
    Er braucht lange, bis er seinen Fund begreift. Merkwürdig, daß er sich nicht gruselt. Doch die stumme Begegnung, hier im schalldichten Versteck, ist so unwirklich wie der Laut seines Atems.
    Er schaut sich seinen Menschen genau an, nimmt Einzelheiten wahr, ohne sie zu verstehen. Es ist wie ein Film in seinem Kopf, der belichtet und erst später entwickelt wird, zu Hause, in der wirklichen Welt.
    Die Leiche ist mumifiziert. Seltsam, denkt Mauser träge. Überhaupt alles seltsam. Ungereimtes Zeug.
    Der Mensch sieht unversehrt aus. Nur wo sein linkes Auge sein sollte, klafft ein Loch. Eine Schußverletzung. Man müßte den Kopf anheben und hinten nachschauen, denkt Mauser. Ob der Schuß durchgegangen ist. Wo ist dann die Kugel? Es müßte eine Patronenhülse geben. Aber vielleicht ist er gar nicht hier erschossen worden. Oder er hat sich selbst

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