Grafeneck
leuchtet Mauser die Kammer ab. Ganze Lehmpakete verkleistern Wände und Decke, nur hier und da ein Stück anstehendes Gestein mit altem Sinter. Kein Hinweis auf einen Spalt oder ein Loch. Möglich, daß sich unter der Lehmverfüllung ein Zugang verbirgt, doch wie sollte der Tote dort hereingeschafft worden sein, wenn er verfüllt war? Und wenn er offen war: Wie konnte er verfüllt werden, ohne daß der hier liegende Tote vom einfließenden Lehm begraben wurde?
Noch immer: Der Anzug weist keine Verschmutzung auf, keine Spur von Lehm oder Dreck.
Hundert Gedanken, Einwände, Antworten, und immer weitere Verknotungen.
»Ich muß mich auf das konzentrieren, was ich kann«, flüstert Mauser leise. Seine Stimme erstickt in der Hermetik der Kammer. Sie klingt klein, verletzbar, aber vertraut. »Nachdenken kann ich zu Hause.«
Eine halbe Stunde lang untersucht er die Kammer, macht sich Notizen, fotografiert einen simsähnlichen Vorsprung, der auf eine Fortsetzung der Höhle hindeuten könnte. Er muß funktionieren wie eine Kamera: nur aufnehmen, jede Kleinigkeit.
Sichtlich zufrieden kriecht er durch die Röhre zurück. In der zweiten Halle sortiert und verstaut er alle gesammelten Befunde. Er lächelt zufrieden. Jetzt können sie ihn haben, denkt er. Mehr ist nicht zu holen. Der Tote zeigt im Vergleich zu gestern schon Spuren fortschreitenden Verfalls, vermutlich durch die eindringende Luft. Lange könnte er ihn nicht mehr konservieren, selbst wenn er jedes Mal die Röhre wieder zuschaufeln würde.
Er kommt draußen an, in der süß duftenden Osterluft, und atmet erleichtert auf. Unbändige Freude, zentnerschwere Last – dummes Zeug, sagt er sich. Ich freu mich halt an dem schönen Tag. Da sollte einer ja wirklich anderes tun als im Finstern herumkrauchen.
Zu Hause verstaut er die Befunde in den Holzladen eines Schrankes, in dem er sonst Bodenfunde aufbewahrt. Unter Plastikdeckeln ruhen seit Jahrzehnten all die aufgesammelten Zeugnisse der Geschichte: Sohlennägel, Fibelnadeln, Spinnwirtel aus Ton, Terrakottascherben, ein paar Münzen. Er beschriftet die Plastikschachteln mit »Lehmkammerhöhle« und der Numerierung von eins bis drei.
Wie die Tütchen und Zettel so in den Laden liegen, ist es fast ein Spiel. Am liebsten, denkt Mauser, würde ich mit der Fingernagelprobe anfangen. Das Mikroskop steht in der Schule, da wird er morgen rüberfahren. Nie und nimmer Höhlenlehm.
Dann ist da der Hinweis auf dem Anzugsetikett. Gminder KG, so was erfährt man am besten beim Heimatverein oder im Stadtarchiv. Wenn ihn seine Erinnerung nicht täuscht, haben die im Krieg dichtmachen müssen. Vater hat davon erzählt, denn die stellten auch die Uniformen her für Württemberg.
Und dann ist da noch die geologische Sachlage. Mauser muß mehr erfahren über die Höhle. Alles: genaue Schichtenlage, Erstentdeckung, Befahrungen, jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Da müßte einer in Grabenstetten bei »Höhle & Karst« anrufen, ob die was wissen.
Mauser reibt sich die Hände.
So kann ich die Geschichte freigeben, denkt er.
Und morgen geh ich zu Waiblinger.
4
In der Polizeistube riecht es wie immer nach Bohnerwachs und Kaffee. Da steht die Gießkanne auf dem Fensterbrett neben den Kakteen. Waiblinger sitzt an seinem Schreibtisch und tut beschäftigt. Ich bring ihm was, denkt Mauser. Ein Osterei. Da wird er dran zu knabbern haben.
»Morgen, Waiblinger.«
»Morgen, Mauser. Wie geht’s?«
Waiblinger blickt auf und macht ein verdrießliches Gesicht. Eigentlich macht er immer ein verdrießliches Gesicht, außer wenn er etwas für ernst und wichtig hält. Sich selbst hält er dafür, aber das begreift er nicht. Waiblinger beugt sich zum Fenster und schiebt mit dem Finger die Gardine zur Seite.
»Du, da kannst du aber mit deinem Kraftrad nicht stehen bleiben.«
»Ich will dir ja nur kurz was melden«, sagt Mauser und bereut schon, daß er gekommen ist. Kraftrad. Was will der Waiblinger mit der Leiche anfangen?
»Park es hinten im Hof. Da stört es keinen.«
»Da, wo es jetzt steht, stört’s auch keinen.«
»Doch. Mich. Ich habe hier für Ordnung zu sorgen.«
Mauser seufzt, dreht sich um und geht hinaus. Draußen auf der Straße entschließt er sich fast, einfach wieder wegzufahren. Ich hab’s versucht, sagt er sich. Aber so einem Menschen kann man keine Höhlenleiche melden. Beinahe zieht er seinen Helm über und steigt auf. Beinahe. Er besinnt sich und schiebt das Moped in den Hof. Als er wieder in die Wachstube tritt,
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