Neuigkeiten aus dem Paradies: Ansichten eines Sizilianers
SECHS BEINE HAT DAS HUHN
Vor vielen Jahren musste der kleine Neffe eines Freundes als Hausaufgabe einen Aufsatz schreiben, dessen Thema in etwa lautete: »Erzählt von eurer Katze«. Was tun? Trotz allen Bettelns und Jammerns hatte der Junge keine Haustiere haben dürfen (zu dieser Spezies gehörten anscheinend auch seine Klassenkameraden, denn er durfte nie draußen spielen). Mit Papier und Stift ausgerüstet, von der Mutter vom Balkon aus überwacht, ging der Kleine auf die Straße und machte sich Notizen über eine streunende Katze, die gerade des Weges kam. Am Ende stand in dem Aufsatz, seine Katze habe drei Beine, ein Ohr, einen angenagten Schwanz und sei stark räudig. Das hatte er gesehen, und das hatte er geschrieben.
In der Familie sorgte der Aufsatz lange Zeit für große Heiterkeit. »Das waren noch Zeiten!«, rufe ich jetzt. Denn der Junge hatte eigentlich nichts anderes getan, als ein Porträt »nach der Natur« zu zeichnen, wie man früher sagte, also auf die Natur bezogen, an der Wirklichkeit orientiert. Doch von Tag zu Tag wird deutlicher, dass das Gefälle zwischen dem Leben in der Stadt und dem in der Natur nicht dramatisch, sondern tragisch ist. Es gibt ein Beispiel von heute, das ich erschreckend finde. Eine Agentur wollte mit einer Umfrage unter römischen Kindern herausfinden, ob sie wissen, wie ein Huhn aussieht. Die Mehrheit der Kinder, die, wenn ich mich recht erinnere, zwischen drei und acht Jahre alt waren, antwortete, es gebe keine natürlichen Hühner, sie würden in Spezialfabriken hergestellt, seien also »künstlich«. So künstlich, dass die Fabrik zwei Sorten auf den Markt bringe: rohes Hähnchen (falls jemandem einfiele, es beispielsweise auf Jägerart zuzubereiten) und Grillhähnchen.
Über die Anzahl der Schenkel, die ein Huhn besitzt, waren sich die Kinder ziemlich uneins, manche meinten, es hätte sechs, manche schworen Stein und Bein, es besäße acht. Nur ein Kind erklärte, dass ein Huhn zwei Schenkel habe, aber die anderen fielen über das Kind her und lachten es aus. Noch strittiger war die Anzahl der Flügel: Immerhin kamen die Kinder einvernehmlich zu dem Ergebnis, dass ein Huhn auf jeden Fall viel weniger Flügel als Beine haben müsse, schließlich kämen mehr Beine als Flügel auf den Tisch. Doch die Tragödie (gestatten Sie mir, diesen Zustand ohne jede Ironie so zu nennen) war schon vor ein paar Jahren zum ersten Mal deutlich geworden, als Stadtkinder, die Fischarten aufzählen sollten, auch die »Fischstäbchen« dazurechneten. Glauben Sie mir, der kalte Schweiß bricht mir aus, während ich dies schreibe, denn hier tut sich ein tiefer Abgrund auf. Ich könnte wetten, dass Kinder, sollten sie in nicht allzu ferner Zukunft, sagen wir in zehn Jahren, erneut zu dem Thema befragt werden, antworten werden: »Der Fisch ist ein virtuelles Tier, das in den virtuellen Gewässern des Internet schwimmt. Er ist unter der Adresse www.zyfisch.wzyx zu finden.« Was für ein furchtbarer Gedanke: Wenn ein Kind meint, ein Lebewesen werde maschinell hergestellt, dann ist sein kindliches Gehirn in meinen Augen auf die schlimmste Weise vergiftet und entstellt. Denn auf diese Art gewöhnen wir es langsam, aber sicher an das Schrecklichste. Und was ist das Schrecklichste? Wenn in zwanzig Jahren ein Großvater (nicht ich – bis dahin werde ich mich glücklich verabschiedet haben) sein Enkelkind nach den Namen seiner Klassenkameraden fragt und zu hören bekommt: »Antonio, Antonio, Antonio, Antonio …«, wenn er fragt: »Wie bitte? Heißen die alle gleich?«, und das Kind sich über die Frage wundert: »Aber Großvater, die sind doch geklont!«
DIE SCHNELLE WARTESCHLANGE
Es geht das Gerücht, bald werde eine Verordnung erlassen, die den mehr oder weniger langen Warteschlangen in den Ämtern den Garaus machen soll. Dann muss jeder Angestellte alle Dinge in einer bestimmten Zeit erledigt haben: Wird diese Zeit überschritten, wird das Büro umstrukturiert. Bekanntermaßen ist »Umstrukturierung« ein bedrohliches Wort. Wahrscheinlich habe ich die Verordnung nicht besonders gut erklärt, aber so habe ich sie zumindest verstanden. Und das bisschen reicht, um sagen zu können, dass ich die ganze Geschichte höchst utopisch (nennen wir es mal so) finde.
Meiner Meinung nach wird hier der Amtsschimmel am Schwanz aufgezäumt. Es wäre sinnvoller, Verordnungen, Stempelmarken, Unterschriften zu streichen, eben all die Amtshandlungen, zu denen der Angestellte verpflichtet ist und die die
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