Granatsplitter
aufrechter Enthusiast des griechischen Altertums, war der Ansicht, im neuen politischen Glauben die altgriechischen Tugenden wieder auferstehen zu sehen. Während die Fronten sich näherten, begann er mit der Oberprima Aischylos’ Agamemnon in altgriechischer Sprache für den Abschluss des Sommertertials vorzubereiten. Als der Junge die Aufführung dann am Ende seines ersten Schuljahres sah, war das Unheimliche noch stärker geworden. Es verschwand nicht mehr aus dem Alltag, es war immer da. Es gab ältere Schüler, die die Jüngeren, denen sie als Zimmerführer vorstanden, nächtens brutal quälten oder quälen ließen. Er selbst entging diesen nächtlichen Folterungen, aber er beobachtete sie und nahm sie wahr als etwas Grauenhaftes, vollkommen fern von dem, was er bisher erlebt hatte.
Es gab verschiedene Formen des Quälens. Manchmal schmierte man einigen der jungen Sextaner mitten in der Nacht Klebstoff in die Nase und klappte sie gleichzeitig an ihr Klappbett gefesselt nach oben und ließ sie mit dem Kopf nach unten eine halbe Stunde so stehen. Ein andermal schleppte man sie in die Duschräume im Keller und setzte sie, gebunden auf einen Stuhl, unter eine kalte Dusche, wo man sie ebenfalls eine Zeitlang sitzen ließ. Der schlimmste Quäler, sein eigener Zimmerführer Alex, war der Sohn des bekanntesten Romanschriftstellers der Zeit. Er führte sich auf, als ob er über Leben und Tod seiner Untertanen verfügen könne. Selber tat er nichts, sondern befahl nur, die anderen mussten die von ihm ausgedachten Scheußlichkeiten ausführen. Sextaner, die Angst zeigten, versuchte er lächerlich zu machen und erfand grausame Witze über sie. Er ließ sich auch von ihnen bedienen, sodass sie ihm am Morgen Hemd und Hose bringen mussten oder irgendetwas anderes. Wahrscheinlich hatte Alex den Jungen nachts in Ruhe gelassen, weil er ihm geantwortet hatte, er dächte gar nicht daran, ihn zu bedienen.
Der Handlung der Aufführung im schönen Gartenhof des Hauptgebäudes hatte er nicht wirklich folgen können, abgesehen davon, dass er keinen der altgriechischen Sätze verstand. Aber seine Phantasie war sofort angesprungen. Er kannte ja die Geschichte von Klytämnestra und Agamemnon. Als Klytämnestra mit der Axt auf den Stufen des Hauptgebäudes stand, die zur mächtigen Tür führten, waren schon die Schreie aus dem Innern zu hören gewesen. Agamemnon war jetzt tot und mit ihm Kassandra, die Seherin. Zu seinen sich weitenden Vorstellungen trug die Architektur des Gebäudes und des großen Gartens bei. Obwohl deren Aussehen nichts zu tun hatte mit dem, wie man sich das Haus der Atriden vor zweitausend Jahren hätte vorstellen können, hatte für ihn der Anblick des Schulgebäudes plötzlich ebenfalls etwas gänzlich Fremdartiges. Ohne Schwierigkeit erblickte er in dem Schüler, der den einfahrenden Agamemnon spielte, den antiken Helden. Seinen Auftritt empfand er wie den Sprung in ein anderes Zeitalter. Eine neue Wirklichkeit tat sich auf, in der er lebte und in die er seit dieser Aufführung immer wieder zurückfand. Es war schön, aber etwas Düsteres war dabei.
Wahrscheinlich war es zu dieser Wirkung auch gekommen, weil die Schule, ihre Architektur und die Schüler so ganz anders waren als die Atmosphäre im Hause der Großeltern am Rande der großen Stadt. Der Schulhof war ein wunderschöner Garten mit Blumen und einem Tempel. Die Schüler trugen besondere Schulkleidung. Und auch der Unterricht war beeindruckend, große Dinge wurden behandelt. Vor allem im Latein- und Deutschunterricht. Was sich hinter dieser schönen Fassade verbarg oder vielleicht auch schon zu erkennen war, das merkte er erst einige Zeit später.
Im Frühsommer vierundvierzig hatte ihn während einer Pause ein Klassenkamerad gefragt, ob er wisse, was ein KZ sei. Er hatte das Wort noch nie gehört. Der Klassenkamerad war ein holländischer Junge aus einer feinen Familie, und unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit erfuhr er, dass ein KZ ein Lager sei, in dem Menschen, die als Gegner der Regierung erkannt wurden, zu Tode gequält wurden. Mehr erfuhr er nicht. Nur noch zwei Worte fielen am Ende der kurzen Unterhaltung. Es seien hauptsächlich »Juden«, die getötet würden, und diejenigen, die töteten, nenne man »SS«. Warum der Klassenkamerad gerade ihm das gesagt hatte, wusste er nicht. Von nun an hatte er die beiden Worte »Juden« und »SS« im Kopf. Die Welt bestand jetzt aus zwei Teilen: die Welt, die er kannte und zu der seine Messe und die
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