Granatsplitter
Regel, dass man über derlei nichts sagt. Bis die Mutter während der Ferien es aus ihm herausfragte und bei der Rückkehr kurzentschlossen mit ihm in die Schule fuhr und einen Skandal auslöste. Von heute auf morgen wurden einige der Vierzehnjährigen, die für die Quälereien verantwortlichen Zimmerführer – Jungen zum Teil aus bekannten Familien – ihrer Schulämter enthoben und öffentlich zu Ehrenstrafen verurteilt. Der Sohn des bekannten Schriftstellers war auch dabei.
Der Junge hatte danach, aus Vorsicht gegenüber der Rache der Anführerclique, eine Reihe der Sextaner um sich gesammelt, und man war über den schlimmsten der Sadisten hergefallen. Irgendwie lag die Gewalttätigkeit in der Luft. Es war nicht nur die Internatstradition. Die Brutalität hatte etwas mit dem neuen Erziehungssystem zu tun, das sich auch in dem renommierten Internat bemerkbar machte. Nicht nur, dass man im Griechischen und im Geschichtsunterricht die spartanische Kriegergesellschaft ausführlich wie ein Vorbild behandelte. Es ging darüber hinaus. Einige der beteiligten Quäler waren Führer in der Staatsjugend und hatten ein Härteideal eingetrichtert bekommen, das mit der alten Humanität nichts mehr zu tun hatte.
Das wusste er nicht. Er wäre sonst nicht auf die Idee gekommen, mit der er seine ganze Klasse blamierte. Was sich genau abgespielt hatte, war folgendes. Im Herbst 43 – alles sprach von Italien und vom Verräter Badoglio –, als verschiedene Fähnlein des Jungvolks der Internatsschule und der umliegenden anderen Schulen sich auf dem Sportplatz in Uniform zur Inspektion versammeln mussten, zog er, da er keine richtige Uniform besaß, etwas an, das so ähnlich aussah: ein braunes Hemd, eine schwarze Hose, ein schwarzes Halstuch. Vor allem aber befestigte er am Ledergürtel ein echtes Fahrtenmesser mit imponierendem Griff, das eigentlich nur die Jungschaftsführer tragen durften. Zum ersten Mal fand er das schneidig aussehend.
Seit dem Verrat des Generals Badoglio mussten sie jeden Mittwochmorgen antreten und Jungvolklieder singen. Badoglio, so einen Namen vergaß man nicht. Mit diesem Namen hatte sich etwas verändert. Die Fronten kamen näher. Aber das blieb bei ihm nur ein schwacher Eindruck. Viel wichtiger waren die Lieder. Diese Lieder gefielen ihm sehr gut, zwei von ihnen hatten es ihm besonders angetan. Wie kühn und mitreißend klangen sie, und wie schön waren ihre Worte: »Ein junges Volk steht auf zum Sturm bereit, reißt die Fahnen höher, Kameraden. Wir fühlen nahen unsere Zeit, die Zeit der jungen Soldaten.« So fing das eine an. Das andere: »Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren.« Es ging ihm durch Mark und Bein, ganz ähnlich wie bei dem wunderbaren Gedicht des großen Dichters, das sie im Unterricht auswendig gelernt hatten: »Feiger Gedanken / Bängliches Schwanken, / Weibisches Zagen, / Ängstliches Klagen / Wendet kein Elend, / Macht dich nicht frei. // Allen Gewalten / Zum Trutz sich erhalten, / Nimmer sich beugen, / Kräftig sich zeigen, / Rufet die Arme / Der Götter herbei!«
Die Ausstaffierung mit einer Privatuniform hatte aber einen noch anderen Grund gehabt. Das Jahr vor dem Eintritt in das feine Internat hatte er mit dem Vater in einem schönen Kurort in der Nähe gelebt, wo keine Bomben fielen und der Vater nach seiner langen Krankheit in Ruhe die Universitätsarbeit wieder vorbereiten konnte. Dort gab es eine Volksschule, in die er jeden Morgen ausgesprochen ungerne ging. Der Grund war sehr einfach. Der Vater hatte verfügt, dass er mit einer Baskenmütze und Knickerbockern, die aus der Schweiz stammten, den Unterricht besuchen musste. Die ganze Klasse fand das zum Lachen, auch der humorvolle Hauptlehrer, der manchmal in einer braunen Uniform mit Armbinde kam. Die anderen Jungen hatten Winterskimützen an und schwarze lange Faltenhosen über genagelten Schuhen und aufgewickelte graue Socken. Sie nannten ihn »Franzos«. Nicht nur wegen der Baskenmütze. Auch weil er eine ganz eigene Aussprache hatte, die besonders lächerlich wirkte, wenn er auswendig gelernte Gedichte von Johann Peter Hebel aufsagen musste. Der Lehrer ließ gerade ihn besonders oft solche Gedichte mit unaussprechlichen Wörtern in fremdem Tonfall aufsagen, sodass die ganze Klasse sich ausschüttete vor Lachen. Obwohl er den Vater immer wieder bat, doch auch eine Skimütze und genagelte Schuhe anziehen zu dürfen, blieb dieser eisern. Der Vater kaufte
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