Granatsplitter
ihm auch keine Pimpfenuniform und hatte dafür gesorgt, dass er nach seinem zehnten Geburtstag gar nicht erst fürs Jungvolk registriert wurde, da man ja nur wenige Monate an diesem Ort bliebe, bevor der Sohn dann in die Sexta eines feinen Internats überwechseln würde, wo, das hatte der Vater in Erfahrung gebracht, die Ideen des neuen Staates nicht besonders ernsthaft befolgt wurden.
Das war also die Vorgeschichte zu seinem Einfall, sich eine eigene Uniform anzupassen. Er stand in der zweiten Reihe seiner angetretenen Klasse, die ein kleineres Karree bildete innerhalb der weiteren Karrees von Jungvolkjungen der anderen Schulen. Vor der ersten Reihe schritten Führer vorbei, die für die höhere Altersgruppe ab vierzehn Jahren zuständig waren, den Blick musternd auf die Zehn- bis Dreizehnjährigen gerichtet. Er fühlte sich ganz sicher und fest auf seinem Platz. Er wollte sogar, dass der Führer in seinem leuchtenden braunen Hemd, der leuchtenden rotweißen Armbinde und der leuchtenden weißgrünen Schulterkordel auf ihn blicke. Als dies tatsächlich geschah, hatte es eine turbulente Wirkung: Er wurde vor die erste Reihe kommandiert, und der junge Führer schrie einige scharfgeschnittene Worte, in abgehackten Abständen, die seiner Aufmachung galten. Das Schlimmste daran war das Fahrtenmesser. Es war sozusagen eine Fälschung. Er sei eine Schande für die ganze Klasse.
Merkwürdigerweise fühlte er sich wegen dieser Zurechtweisung vor dem ganzen Fähnlein nicht so beschämt wie ein Jahr zuvor mit der Baskenmütze und den Knickerbockern. In ihm war eine Welle des Trotzes hochgestiegen. Der Tonfall des älteren Jungen mit der grünweißen Kordel hatte etwas Abstoßendes für ihn. Er hatte diesen Tonfall bisher noch nie gehört. Er wusste nicht, wie er ihn beschreiben sollte. Etwas namenlos Unschönes, auch Gefährliches. Jedenfalls war es so fern von dem, was ihn dazu gebracht hatte, sich eine eigene Uniform zu erfinden, dass ihn die Aberkennung nicht innerlich traf. Offenbar gehörte die richtige Uniform zu einer anderen Welt als der, die er kannte und in der er sich wohlfühlte. An das ihm nicht zustehende Fahrtenmesser sollte er bald noch einmal erinnert werden. Eines Tages nämlich hatte ihn ein älterer Schüler, der schon Führer im Jungvolk war, gefragt, ob er eigentlich wisse, was ein wirklicher Junge zu leisten und auszuhalten hätte. Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr der Jungvolkführer fort: Ein wirklicher Junge, ein Junge, der mutig sein wolle, der dürfe keine Miene verziehen, wenn ihm ein Fahrtenmesser durch die flache Hand gestoßen würde. Das sei die Mutprobe, die man bestehen müsse. Was war das für eine furchtbare Art zu reden? Tagelang musste er darüber nachdenken, bis er sicher war, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Hinter der ganzen Geschichte mit seiner falschen Uniform und dem Fahrtenmesser steckte etwas, das er sich nicht vorgestellt hatte, als er die schönen Lieder hörte von der Fahne, die voranflattert, und der Fanfare, die »Vorwärts!« schmettert, und der Jugend, die keine Gefahren kennt. Er war ja selbst nie richtig in Schritt und Tritt dabei gewesen und hatte die mitreißenden Lieder nur singen gehört. Ihm wurde plötzlich verständlich, warum sein Vater ihm nie eine Uniform gekauft hatte, selbst dann nicht, als er ins Internat eingetreten war. Der holländische Klassenkamerad, der ihm zur Zeit des Zwischenfalls mit der Phantasieuniform das Wort »KZ« erklärt hatte, hatte ihm nach dem Zwischenfall noch mehr über die SS erzählt, wie gefährlich sie sei.
Die Annahme des Vaters, dass es sich um eine Schule handele, deren Unterricht noch ganz auf der alten Lateintradition beruhe, war wohl nicht falsch gewesen. Die lateinischen Vokabeln erforderten die meiste Konzentration. Und mit der lateinischen Sprache kam auch die römische Geschichte, die man sich in großen Bildern vorstellte.
Obwohl er auf unklare Weise das Fahrtenmesser nicht mehr für das Zackige hielt, waren ihm andere Wörter mit Mutgehalt doch im Bewusstsein geblieben. Die Deutschlehrerin hatte ihnen aufgetragen, das Gedicht des bekanntesten deutschen Dichters in einer schönen Schrift aufzuschreiben, nämlich Feige Gedanken . Die Lehrerin hatte eigentlich nichts dazu gesagt. Das Gedicht hatte auf ihn ohne irgendeine Erklärung gewirkt. Das war etwas Übermächtiges gewesen, etwas Unerreichbares strahlte von ihm aus, das er dennoch erreichen wollte. Es ging um Mut, und mutig zu sein, blieb ja noch immer
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