Granatsplitter
Granatsplitter gehörten, und eine andere, fremde Welt.
An dem Tag, als die Atriden aufgeführt wurden, waren alle Eltern anwesend, soweit die Väter nicht an der Front standen. Auch sein Vater war angereist. Am Morgen vor der Aufführung hatte er ihn zu einem langen Spaziergang abgeholt. Der Vater begann mit ihm über den Krieg zu reden, über das bevorstehende Ende. Es war das erste politische Gespräch mit ihm. Hoffentlich, sagte der Vater einsilbig, werden die Alliierten bald den Rhein überschreiten. Länger sprach er über das Attentat, das gerade zwei Wochen vorher stattgefunden hatte. Es sei eine Gruppe mutiger Männer gewesen, die alles versucht hätten, aber an einem Zufall gescheitert seien. Die Folgen seien für alle verheerend. Man bereite nicht nur die Hinrichtung der unmittelbar Beteiligten bis zu allen in die Verschwörung Eingeweihten vor, sondern verstehe es auch, die Mehrheit der Leute gegen die Attentäter einzunehmen. Es war das erste Mal, dass der Vater ihm erklärte, der Staat würde von Verbrechern geführt, und das Volk sei nicht viel besser. Das Gespräch ängstigte den Jungen. Noch schlimmer war es, als der Vater erzählte, dass die Polizei vor seinem Haus einen Mann vom Fahrrad geschossen hätte. Es sei der Freund gewesen, der einmal oder zweimal im Monat bei ihm übernachtet hätte, immer in Gefahr, entdeckt zu werden. Er sagte ihm auch, dass er mit niemandem über das reden dürfe, was er gerade gehört habe. Als er dem Vater erzählte, was der holländische Junge ihm über das KZ gesagt hatte, erwiderte der Vater nur knapp, dies alles sei wahr.
Am Nachmittag dann sah er den Primaner, der Agamemnon spielte, auf dem Streitwagen in den Hof der Schule einfahren. Hinter ihm auf dem Wagen Kassandra, vor ihm auf den Stufen zum Eingang des Haupthauses Klytämnestra. Alles, was er sich beim Lesen des Sagenbuches vorgestellt hatte, geschah jetzt. Als Kassandra in ihre Rede ausbrach, in der sie die uralte Mordvergangenheit der Atriden und die unmittelbare Mordzukunft Agamemnons und ihre eigene beschwor, mischte sich in die Faszination an der Geschichte Agamemnons und Klytämnestras eine Furcht. Denn er wusste nun, dass Mord an der Tagesordnung war, nicht bloß eine Tat in ferner Vergangenheit. Aber das Volk von Mykene verurteilte die Morde, auch wenn es nicht wagte, etwas gegen die Mörder zu unternehmen.
Am nächsten Morgen fuhr er mit dem Vater in einem der noch funktionierenden Schnellzüge in die Heimatstadt im Westen, wo in vielen Vierteln kein Stein mehr auf dem anderen stand und die Angriffe immer noch zunahmen.
DIE FLIEGENDE FESTUNG
Die Zeit veränderte den Sommer. Die Hitze der Sonne machte keinen großen Unterschied zu den Nächten, denn jetzt hörten die Brände an allen Enden der Stadt nicht mehr auf. Wer konnte, verließ das Zentrum oder zog am Abend um in den nächsten Bunker. Der Junge war in einen der nächtlichen Angriffe geraten, nach dessen Ende der Phosphor in die Keller floss. Zuerst Brand- und dann Sprengbombenabwürfe. Die englischen Bomber kamen in zwei Wellen. Die Gewalt der Sprengbomben hatte sich ebenso gesteigert wie vorher die der Brandbomben. Anstatt Sprengbomben waren es schließlich Luftminen, anstatt Brandbomben waren es schließlich Phosphorgranaten. Er hatte die letzte Nacht der aufeinanderfolgenden Bombardements bei der Mutter verbracht, im Zentrum der Stadt nahe des Doms. Hier betete keiner. Alles war sehr still bis auf die Explosionen draußen und das plötzliche Aufschreien der Frauen. Und gelegentlich hörte man ein leises Weinen. Einmal kam ein Mann mit dem Zeichen der Staatspartei am Ärmel die Kellertreppe herunter und suchte nach halbwüchsigen Jungen, die helfen sollten, die zu Stümpfen verbrannten Körper auf der Straße aufzustapeln. Der Elfjährige war genau das, wonach der Mann gesucht hatte. Aber vor ihm stand die Mutter. Sie war noch immer geschminkt und fiel noch immer auf, jetzt in einem Nerzmantel. Sie schrie den Mann mit der Armbinde an, und er verließ den Keller, nicht ohne anzukündigen, dass das Folgen haben werde.
Es war auch die Mutter gewesen, die die nächtlichen Grausamkeiten im Internat der Schulleitung zur Kenntnis gebracht hatte. Dass ältere Schüler jüngere quälen, gehörte zum Bestand feiner Erziehungstradition. Was sich aber im Winter 43/44 abgespielt hatte, war wohl etwas mehr als die übliche Brutalität. Er hatte das alles mitangesehen, ohne selbst gequält worden zu sein. Er hatte darüber geschwiegen, gemäß der
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