Granatsplitter
mit der Freundin in eins der besseren Cafés auf dem großen Boulevard mitzunehmen, wartete sie nicht, bis der Großvater am Ende des Mittagessens das kurze Dankgebet gesprochen hatte, sondern stand schon vor dem Spiegel und schminkte sich unter den vorwurfsvollen Blicken der Großmutter die Lippen nach. Wenn er mit der Mutter dann die Straße betrat, wartete schon eine Reihe der Nachbarjungen: Die fremde schöne junge Frau sah irgendwie verboten aus. Das fanden auch die Mütter der Nachbarschaft mit den dicken Haarknoten, die sich über die ungewöhnliche Erscheinung aufregten. Die Großmutter sagte nichts zum Aussehen ihrer Tochter, aber sie mochte nicht, dass sie sich so schminkte, Lippen, Augen, alles.
Bevor der Junge mit der Mutter das Haus verließ, musste er sich waschen und den dunkelblauen Bleyle-Anzug anziehen, den sie mitgebracht hatte. Sie kämmte ihn so heftig, dass es wehtat. Und dann folgte die eigentliche Erniedrigung. Feingemacht musste er neben der geschminkten Mutter an der Reihe der Nachbarjungen vorbei. Er tat so, als ob nichts sei, aber er schämte sich wie noch nie in seinem Leben. Im Café ging es ihm auch nicht besser. Er musste sich neben die Freundin der Mutter setzen und sollte die Vögel zeichnen, die in einem großen Käfig saßen. Ein Klavierspieler klimperte Melodien, an die er sich aus der schrecklichen Zeit, als der Vater nur noch selten da war, erinnerte. Jedes Mal, wenn er die Mutter in die Stadt begleiten musste, begann es mit der Erniedrigung und hörte es auf mit der Langeweile im Café. Ein solcher Besuch drohte ihn um sein ganzes Ansehen als Anführer zu bringen. Wer eine solche Mutter hatte, passte nicht dazu, mochte er sich noch so anführerhaft gebärden.
Eines Tages, es war Mitte zweiundvierzig, erschien im Hause der Großeltern ein fremd aussehender Mann in Knickerbockern und mit einer Baskenmütze. Es war der Vater. Wie lange hatte er ihn nicht gesehen? Der Vater kam aus dem neutralen Ausland, wo er eine schwere Krankheit auskuriert hatte. Jetzt wollte er den Sohn holen. Der Vater wirkte nicht nur fremd, weil er ihn solange nicht gesehen hatte. Er wirkte fremd wegen seines Äußeren und seines legeren Benehmens. Er sagte, es sei die Zeit gekommen, dass er auf einer guten Schule etwas Ordentliches lerne. Aber die Granatsplitter, die Bande, das Messdienen, die Uniformlitzen, die von Kerzen erleuchtete Kirche! Das sei alles sehr schön, aber es gäbe Wichtigeres, zum Beispiel die lateinische Sprache, die er auch als Messdiener ja nur in Bruchstücken gelernt habe: »Ad altare dei« oder »Juventutem meam« und ein grammatisch nie richtig gelerntes »Confiteor«. Die Schule, die der Vater für ihn ausersehen hatte, war ein Internat im äußersten Süden des Landes, in dem die antiken Sprachen neben den Künsten und dem Sport das Wichtigste waren. Zuvor musste er auf die Aufnahmeprüfung in die Sexta vorbereitet werden, was im Privatunterricht des Vaters geschehen sollte. Dann kam der mit Spannung erwartete Tag. Und mit dem großen Tag kam auch das, was ihn die Abwesenheit der Großeltern, der Bande und des Messdienens ertragen ließ. Das, was ihn nun in Bann schlug wie der schönste Granatsplitter, war ein bebildertes dickes Buch mit altgriechischen Sagen, das er sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Schon der Anblick der Bilder hatte etwas, was beunruhigte, weil es so fremd war und gleichzeitig durch seine Schönheit anzog. Er konnte die einzelnen Geschichten nur schwer verstehen. Zwei Namen hatten es ihm aber sofort angetan, »Agamemnon« und »Klytämnestra«. Wie der noch für Troja Gerüstete auf dem Kampfwagen in den Palast einfährt, wie er über den roten Teppich in das Innere des Palasts schreitet, und wie er dann, im Bad, vom Beil Klytämnestras getroffen wird, aufschreit, noch einmal getroffen wird und stirbt. Der Junge las die Geschichte immer wieder. Wichtig waren vor allem diese beiden geheimnisvollen Namen.
Er war nun zehn Jahre alt und begann zu entdecken, dass nicht bloß die Geschichten im griechischen Sagenbuch unheimlich waren. Das Bedrohliche kam von der einen oder anderen Andeutung der älteren Schüler, es tauchte aber auch in manchen Unterrichtsstunden im Internat auf. Sie lernten Gedichte des größten Dichters auswendig, die irgendwie einschüchterten, Sätze wie »Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten«, »Nimmer sich beugen« oder antike Sinnsprüche wie »Habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl«. Der Schulleiter, ein
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