Granger Ann - Varady - 04
gestanden. Kein Wunder,
dass sie zuzeiten verwirrt gewesen war, ganz besonders, wenn
sie über ein derart schmerzliches Thema reden musste. War
es vielleicht möglich, dass sie, als sie mit Rennie über mich
gesprochen hatte, mich manchmal versehentlich Miranda
genannt hatte? »Finde Francesca für mich«, abwechselnd
mit »Finde Miranda« – und dass Rennie ziemlich schnell
dahintergekommen war, dass sie über zwei verschiedene
Töchter redete? Doch wie viele andere Theorien, die ich bezüglich dieser Geschichte hatte, würde auch diese im Reich
des »Vielleicht« bleiben.
Es war einer von jenen klaren, kühlen Tagen gewesen, die
auf regnerisches Wetter folgten, wenn das Licht alles sauber
und überklar aussehen lässt. Obwohl die abendlichen Schatten bereits lang wurden, als ich endlich beim Hospiz angekommen war, schien das Licht immer noch eine ganz besondere Qualität zu enthalten. Die umgebende Vegetation
leuchtete von innen heraus. Die großen, unregelmäßig geformten Rhododendronbüsche sahen aus wie schlummernde Kreaturen. Ihre glänzenden, dunkelgrünen Blätter wirkten weich und glatt. Alles schien in Bewegung, als streckte es
unsichtbare Hände nach mir aus. Dieser Garten war so exotisch wie das üppige, tropische Palmenhaus in Kew Gardens.
Ein leichter Wind wehte mir ins Gesicht. Für einen Moment fühlte ich mich, als wäre ich jemand anders. Als stünde ich abseits in der Dämmerung und beobachtete mich,
wie ich die Treppen zum Haus hinaufstieg. Das Haus sah
unwirklich aus. Als ich mich der Eingangstür näherte, sah
ich eine Bewegung dahinter. Schwester Helen kam mir von
der anderen Seite entgegen. Sie zog die Tür auf und erwartete mich.
Ich wusste, was geschehen war, was sie sagen würde, und
kam ihr zuvor. »Mutter ist gestorben, oder?«
»Es tut mir so Leid, Fran«, sagte sie. »Es ist erst vor einer
Stunde passiert. Ich habe versucht, Sie zu erreichen. Ich habe im Zeitungsladen angerufen, und man hat mir gesagt, Sie
wären auf der Polizeiwache. Also habe ich dort angerufen,
doch Sie waren schon wieder gegangen. Ich schätze, Sie waren schon auf dem Weg hierher.«
Sie trat beiseite und ließ mich in das Foyer. Behutsam
fragte sie: »Möchten Sie sie sehen?«
Ich nickte.
»Haben Sie schon einmal einen toten Menschen gesehen?«
»Ja«, antwortete ich. Ich hatte meinen Dad und meine
Großmutter gesehen, beide hübsch zurechtgemacht. Ich
hatte ein Mädchen in einem besetzten Haus, in dem wir
beide gewohnt hatten, von der Decke baumeln sehen. Ich
hatte Rennie Duke leblos in seinem Wagen sitzen sehen. Ich
hatte mehr Tote in meinem Leben gesehen, als mir lieb war.
»Sie dürfen nicht vergessen«, sagte Schwester Helen,
»dass der Bestatter noch nicht da gewesen ist. Wir warten
auf ihn. Wir haben unseren gewohnten Beerdigungsunternehmer gerufen. Haben Sie einen anderen Wunsch?«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin sicher, der gewohnte Bestatter
macht alles richtig.« Ich dachte an Susie Duke und fragte
mich, wie teuer die Beerdigung mich wohl kommen würde.
Ich besaß keine finanziellen Mittel, und es war zu viel gehofft,
dass Mutter versichert gewesen war. Ich fühlte mich furchtbar verlegen. »Ich … ich kann nicht … ich habe keine Arbeit
und …« Ich fühlte mich schrecklich verlegen.
Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich
keine Sorgen, Fran. Wir sind eine eingetragene Wohltätigkeitsorganisation, und unter bestimmten Umständen kümmern wir uns auch um die Begleichung der Kosten für eine
Beerdigung. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Ich folgte ihr den Gang hinunter. Es schien falsch, direkt
über Geld geredet zu haben, doch ich wusste nicht, was ich
sagen oder tun sollte.
Mutter lag friedlich in ihrem Bett am Fenster. Draußen
sah ich das Vogelbad und ein paar Stare, die sich darum
zankten. Ich fragte mich, ob sie die Tiere beobachtet hatte,
als sie gestorben war. Sie sah überrascht aus, als wäre der
Tod, trotz ihres Wissens um die eigene Sterblichkeit, ein
unerwarteter Besucher in ihrem Zimmer gewesen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie den Tod fragen, was
er denn hier zu suchen hätte. Ich wollte weinen, doch die
Tränen weigerten sich zu kommen. Wenn überhaupt, dann
fühlte ich mich betäubt.
»War sie allein?«, hörte ich mich fragen.
»Ja. Aber sie hatte kurz zuvor Besuch«, sagte Schwester
Helens Stimme.
Das vertrieb den Nebel, der mich umfangen hielt. »Besuch? Wen?«, fragte ich.
»Ein junges Mädchen und einen
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