Grant County 05 - Gottlos
schlaffer wurde. «Nicht aufgeben, Terri. Sag mir, was bist du?»
Terris Lippen verkrampften sich, als wollte sie lächeln, wusste aber nicht mehr, wie es ging.
«Was bist du, Terri? Was?»
«Ich … bin …» Wieder hustete sie Blutströpfchen. «… frei.»
«Gut so», sagte Jeffrey, als Tim nach Luft schnappte, den ersten Atemzug holte. «Gut so, Tim. Schön atmen.»
Aus Terris Mund quoll Blut und lief ihr in einer dünnen roten Linie über die Wange, wie ein Strich, den ein Kind mit einem Wachsmalstift über ein leeres Blatt zieht. Was von ihrem Kiefer übrig war, erschlaffte. Ihre Augen wurden glasig.
Sie hatte es geschafft.
Als Lena das Revier gegen neun Uhr abends verließ, hatte sie das Gefühl, dass sie seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen war. Sie war erschöpft, und jede Faser ihres Körpers schmerzte, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Ihr Ohr war immer noch betäubt, nachdem die Wunde im Krankenhaus genäht worden war. Mit den Haaren konnte sie das fehlende Stück Ohrläppchen kaschieren, doch Lena wusste, dass sie jedes Mal, wenn sie in den Spiegel sah oder die Narbe betastete, an Terri Stanley denken würde. Sie hatte beinahe gelächelt, als sie starb.
Auch wenn kein sichtbares Zeichen mehr davon zu sehen war, spürte Lena immer noch Terris Blut auf ihrer Haut, in ihrem Haar, unter den Fingernägeln. Was sie auch tat, sie hatte es in der Nase, schmeckte es, fühlte es. Es klebte an ihr wie Schuld und schmeckte nach bitterer Niederlage. Sie hatte Terri nicht geholfen. Sie hatte nichts getan, um sie zu beschützen. Terri hatte recht behalten – sie beide ertranken im gleichen Ozean.
Lenas Handy klingelte, als sie die Abzweigung in ihr Viertel nahm, und sie hoffte, dass Jeffrey sie nicht doch noch länger auf dem Revier brauchte. Blinzelnd starrte sie das Display an und überlegte, woher sie die Nummer kannte. Sie ließ es ein paarmal klingeln, bevor sie sich erinnerte. Es war Lu Mitchells Anschluss. Nach all den Jahren hatte sie die Nummer beinahe vergessen.
Fast fiel ihr das Telefon herunter, als sie es aufklappte, dann fluchte sie, weil sie es gegen ihr verletztes Ohr gedrückt hatte. Lena wechselte die Seite und sagte: «Hallo?»
Niemand meldete sich, und enttäuscht dachte sie, dass der Anruf schon auf ihre Mailbox weitergeleitet worden war.
Sie wollte schon auflegen, als sie Gregs Stimme hörte. «Lee?»
«Ja», antwortete sie und versuchte, dabei nicht atemlos zu klingen. «Hallo. Wie geht’s?»
«Ich habe in den Nachrichten von der Frau gehört», sagte er. «Warst du dabei?»
«Ja», antwortete sie wieder. Sie fragte sich, wie lange es her war, dass sich jemand nach ihrer Arbeit erkundigt hatte. Ethan war viel zu egozentrisch, Nan zu zartfühlend dafür.
«Geht es dir gut?»
«Ich war dabei, als sie starb», sagte Lena. «Ich habe ihre Hand gehalten und mit angesehen, wie sie gestorben ist.»
Sie hörte ihn atmen und dachte an Terri, an ihre letzten Atemzüge.
«Gut, dass sie dich hatte.»
«Ich weiß nicht.»
«Doch», entgegnete er. «Gut, dass jemand bei ihr war.»
Ohne nachzudenken, platzte sie heraus: «Ich bin kein guter Mensch, Greg.»
Wieder hörte sie nur seinen Atem.
«Ich habe furchtbare Fehler gemacht.»
«Jeder macht Fehler.»
«Aber nicht solche», entgegnete sie. «Nicht so schlimme Fehler, wie ich sie gemacht habe.»
«Möchtest du darüber reden?»
Nichts hätte sie lieber getan, als mit ihm zu reden, ihm alles zu beichten, was passiert war, ihm die fürchterlichen Details aufzuzählen. Doch sie konnte nicht. Sie brauchte ihn viel zu sehr, brauchte das Gefühl, dass er eine Straße weiter war, seiner Mutterdie Wolle hielt, wenn Lu Mitchell ihm einen weiteren hässlichen Schal strickte.
«Also», sagte Greg, und Lena versuchte, das Schweigen zu überbrücken.
«Danke für die CD.»
Seine Stimme hellte sich auf. «Du hast sie bekommen?»
«Ja», sagte sie und zwang sich, fröhlich zu klingen. «Das zweite Lied gefällt mir am besten.»
«Es heißt ‹The Oldest Story in the World›.»
«Du hättest mir ruhig die Titel aufschreiben können.»
«Deshalb kauft man sich die CD selber, du Schlaumeier.» Sie hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, geneckt zu werden, und plötzlich spürte Lena, wie das Gewicht, das ihr auf der Brust lag, leichter wurde.
Greg fuhr fort: «Die Kommentare im Booklet sind super. Eine Menge Fotos von den Chicks. Ann sieht rattenscharf aus.» Er lachte selbstironisch. «Nancy würde ich auch nicht von der
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