Grappa 05 - Grappa faengt Feuer
stiehlt die Schale mit der Koronis-Szene. Der Sohn von Koronis und Apollon ist der berühmteste Arzt der Antike. In einem Orakelspruch der delphischen Pythia, der überliefert ist, heißt es: ›Koronis gebar im steinigen Epidauros‹. Ajax Unbill ist in die Mythologie unheilvoll verstrickt.«
»Kein Wunder«, entgegnete ich, »der arme Kerl ist schon als Kind von seinem Vater mit der Antike gequält worden.«
»Immerhin war seine Rache ziemlich ungewöhnlich«, sagte Kondis und pellte eine Orange, »und vor allem blutig. Ajax hat natürlich längst gemerkt, dass er krank ist. Und im Heiligtum des Asklepios können alle Krankheiten geheilt werden, so ist es überliefert. Wenn er so verrückt ist, wie ich glaube, wird er in Epidauros Erlösung suchen. Dort gab es einen Saal, dessen Grundmauern noch stehen. Er heißt abaton, was übersetzt ›das Unbetretbare‹ heißt. Die Kranken reinigten sich, aßen rituelle Speisen und verbrachten eine Nacht dort. Irgendwann kamen die Götter vorbei und heilten sie. Epidauros war eine riesige antike Kurklinik. In der Herberge gab es 150 Zimmer. Die Patienten und ihre Angehörigen hatten jede Menge Unterhaltung. Zum Beispiel im weltberühmten Theater, das von Polyklet im 4. Jahrhundert vor Christus gebaut worden ist.«
»Ich liebe gebildete Männer!«, rief ich entzückt aus. »Und nun knusper dein Brötchen und lass uns packen. Ich kann es kaum erwarten, unseren Battos wiederzufinden.«
»Und was tun wir, wenn wir ihn entdecken sollten?«
»Keine Ahnung. Das entscheiden wir, wenn es so weit ist. Bist du fertig?«
Eine Panne mit Joghurt und Honig
Der Weg nach Epidauros führte über Argos, dessen Burg ich vom Balkon meines Zimmers in Mykene aus der Ferne gesehen hatte. Wenn Ajax nach Epidauros geflüchtet war, musste er sich noch eine Weile gedulden bis zum gemeinsamen Wiedersehen.
Unterwegs setzte ich den Mietwagen auf einer schlechten Straße in ein tiefes Loch. Wir steckten fest.
»Wären wir nur auf der Asphaltstraße geblieben«, meinte ich genervt, als ich das Malheur betrachtete. »Aber du wolltest ja die Schleichwege durch die Landschaft nehmen!«
»Hättest du mich fahren lassen«, gab Kondis zurück.
»Natürlich! Frauen sollten sowieso nicht ans Steuer, oder?« Wütend trat ich gegen den Reifen.
»Genau. Frauen sollten dem Manne dienen, in der Küche bleiben und die Kinder großziehen«, grinste er.
»Dass du so denkst, hätte ich eigentlich wissen müssen, du Macho!«
Er meinte es spöttisch, doch ich wollte mich ärgern. Ich schnappte meinen Sonnenhut und setzte mich auf einen Baumstamm, der ein paar Meter entfernt lag.
»Es war sowieso Zeit für eine Pause«, meinte Kondis ungerührt durch meine schlechte Laune. »Schau dich um! Was sagst du?«
Er setzte sich ins Gras zwischen meine Beine, griff meine Arme und legte sie sich auf die Schultern. Ich beugte mich zu ihm hinunter und steckte meine Nase in seine Haare. Sie dufteten nach Pinien und Honig, genau wie die Hügel um uns herum. Sie waren niedrig wie die muskulöse Brust eines Mannes, von niedrigem Longos bewachsen, in dem der blühende Thymian wie lila Perlen lag. Zistrosen und wilder Fenchel kämpften um die wenigen freien Plätze zwischen kleinen Steineichen und Wacholdern.
»Du gehörst in dieses Land«, flüsterte ich, »sei glücklich, dass du ein Mensch und ein Grieche bist. Wie hast du es nur so lange in Deutschland ausgehalten?«
Er antwortete nicht, sondern deutete in die Luft. Ein Greifvogelpaar spielte vor der fast senkrecht stehenden Sonne. Sie entfernten sich voneinander, aber nur, um wieder aufeinander zuzufliegen. Ihre Flügel schienen sich zu streifen, ihre Bäuche zu berühren. Die kurzen, spitzen Schreie vibrierten in der festen Luft.
»Das sind Milane«, erklärte er. »Sie bleiben ein Leben lang ein Paar. Stirbt einer von ihnen, stürzt sich der andere in den Tod – so wird erzählt.«
»Traurig und schön sind die Geschichten, die du erzählst. Warum ist das Leben so schrecklich kompliziert geworden?«
»Als die Menschen begannen, die Leidenschaften zu beherrschen, hat das Unglück seinen Lauf genommen.«
»Ohne die Beherrschung der Leidenschaften gäbe es keine Kultur. Gerade die Zusammenarbeit von Kopf, Herz und Leidenschaft hat das geschaffen, vor dem wir heute bewundernd stehen«, philosophierte ich.
»Du bist eine merkwürdige Frau! Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der Situationen so tief fühlt und dennoch Angst davor hat, sie wirklich zu genießen.
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