Grass, Guenter
Nichts Neues unter der Sonne, denn fortan blieb man an
deutschen Universitäten in sich gekehrt oder tat vornehm abgehoben. Man
fachsimpelte am liebsten mit seinesgleichen, bezog Nischen, gefiel sich im
nimmermüden Intrigenspiel, wollte auf keinen Fall anecken, muckte allenfalls
in geselliger Runde auf, pflegte ansonsten, bei aller Gelehrsamkeit,
wohlbedachte Duckmäuserei, scheute jedenfalls das öffentlich wirksame Wort
oder suchte den Dunstkreis der jeweils Mächtigen, so daß - kein Wunder! - knapp
hundert Jahre nach der Protestation der Göttinger Sieben, als es landesweit
dreiunddreißig schlug, aus Professorenmund keine Widerworte laut wurden, sobald
in allen deutschen Universitäten, so auch in Göttingen, begonnen wurde, die
Hörsäle von jüdischen Professoren und Studenten, wie es in Aufrufen hieß, zu
»säubern«, auf daß sie, was als Leistung anerkannt werden wollte, fortan
»judenfrei« waren, wobei sich der NS-Studentenbund von Königsberg bis Freiburg,
ob in Leipzig oder Heidelberg als antreibende Kraft der landesweit
arisierenden Barbarei erwies. Denn nirgendwo, in keinem Seminar oder Labor, wo
jeweils gelehrt und geforscht wurde, war die Spur von einstigem
Professorengrimm und jener studentischen Aufsässigkeit geblieben, die Wirkung
zeigte, als drei der Göttinger Sieben - Dahlmann, Gervinus und Jacob Grimm -
nach dreitägiger Frist, und bei Zuwiderhandlung unter Androhung von Haft, des
Landes verwiesen wurden; man kann auch abgeschoben sagen, wie es nach gegenwärtiger
Amtssprache der alltäglichen Praxis entspricht.
Auch
das nahmen die Talarträger der Georgia Augusta hin. Begründet wurde die
Ausweisung mit der den Landesfrieden störenden Veröffentlichung der
Protestation. Deren Wortlaut aber hatten nicht die beschuldigten Professoren
freigegeben, vielmehr fand sich auf dem behördlichen Dienstweg - mit oder ohne
Absicht offengehalten - eine undichte Stelle, worauf der Text handschriftlich
in Tagundnachtarbeit von über zweihundert Studenten abgeschrieben und als Flugblatt
verbreitet werden konnte.
Gleich
danach sorgten sie für Kurierdienst. Dabei half kein Kopiergerät. Keine
Presseagentur war scharf auf Aktuelles. Was heutzutage sekundenschnell übers
Internet oder den Mobilfunk um die Welt eilt und dabei, dank der Schläue
neuester Medien - und sei es als albern plapprige E-Mail nur - jegliche Zensur
unterläuft, war zur Zeit der Brüder Grimm ein ungeschütztes Abenteuer. Dennoch
entstand in Kürze ein Netzwerk, das in Deutschlands überwachten Fürstentümern,
in halbwegs freien Städten, ja, bis nach England und Frankreich von der
Ungeheuerlichkeit des Verfassungsbruches Bericht gab. So kam es dazu, daß an
entfernten Orten die Göttinger Sieben gefeiert wurden.
An
Ort und Stelle jedoch hat die Stadtpolizei studentische Versammlungen
niedergeknüppelt. Dragoner zerstreuten Zusammenrottungen auf Straßen und
Plätzen. Die Bürger duckten sich weg. Allenfalls mag der eine, der andere »Die
Gedanken sind frei...« gesummt haben.
Als
aber in allen Studentenquartieren bekannt wurde, daß in wenigen Tagen, datiert
ab dem 11. Dezember des Jahres 1837, die drei Ausgewiesenen das Königreich Hannover
auf dem Kutschweg über Witzenhausen verlassen würden, um im kurhessischen
Nachbarland Asyl zu suchen, machten sich über siebenhundert Studenten in der
Nacht vom sechzehnten zum siebzehnten auf den Weg, zu Fuß, weil die städtische
Polizei alle Kutschfahrten sowie das Leihen von Pferden und Wagen bei Strafe
verboten hatte.
Doch
keine amtliche Allmacht konnte sie aufhalten. Schnell lernten die Studenten,
die Erlasse der Behörden zu umgehen. Schon Vortags waren sie, trotz drohender
Knüppelgewalt, die dreidreiviertel Meilen bis zur Grenze am Fluß Werra
unterwegs gewesen. Viele auf Umwegen. Als Alleingänger und in Gruppen. Man
zerstreute, sammelte sich. Nun erwarteten sie anderentags an der Brücke nach
Witzenhausen die von ihnen so hochverehrten Professoren. Es soll frostig
gewesen sein, doch lag kein Schnee, auch deckte kein Eis die Werra. Bestimmt
aber waren - vermutet oder erkannt - Spitzel zur Stelle.
Friedrich
Christoph Dahlmann und Jacob Grimm kamen in der ersten Kutsche, Georg Gottfried
Gervinus in der zweiten. Schon eine halbe Meile vor der Brücke liefen junge
Leute neben dem erzwungenen Abtransport. Einige mit qualmenden Fackeln, andere
schoben die Gespanne. Hochrufe trieben die Pferde an. Der überlieferte Bericht
des theologischen Stiftsrepetenten Ernst Berthlan, der sich
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