Grass, Guenter
mir mit Fingerzeig wortlos die Richtung. Und auch
des Kindes Zeigefinger tut so, als wüßte er, wo wer zu suchen ist.
Also
finde ich nach langer Wegstrecke zum Neuen See und miete dort ein Ruderboot,
wie ich es tat, als endlich die Mauer fiel, um meinen allzeit zeitflüchtigen
Romanhelden Fonty und die zartbittre Madeleine, seine aus Frankreich angereiste
Enkeltochter, an Bord zu nehmen, auf daß sie rückbezüglich bis in die finsteren
Zeiten der Hugenottenverfolgungen ins Gespräch kamen.
Nun
aber hoffe ich, mit Jacob und Wilhelm in einem Boot zu sitzen, damit wir von A
wie Abschiednehmen bis Z nah ans Ziel kommen und noch einmal die Vokale feiern,
das Derdiedas verspotten, uns an Partikeln genugtun dürfen.
Und
schon sitzen sie mir gegenüber, denn ich halte die Ruderbank besetzt. Dem
späten Nachmittag entsprechend steht die Sonne tief. Mildes Licht schmeichelt
beiden. Mit sparsamem Schlag suche ich die Mitte des Sees, über dessen kaum
gekräuselter Fläche Libellen tanzen. Die wenigen Boote auf dem See halten
Abstand zu uns. Weil Stille dazu einlädt, bereite ich mich auf eine längere
Rede vor, die, so ist zu befürchten, nicht frei von Pathos sein wird.
»Es
ist vollbracht!« rufe ich und verbessere mich sogleich: »Es ist getan.«
Dann
plaudere ich aus, was das Jahr sechzig sonst noch zu bieten hat: »Sogar der
Staatsratsvorsitzende der DDR findet lobende Worte dafür, was >trotz
unterschiedlicher Gesellschaftsordnung im Interesse unserer Nation< möglich
ist.«
Hier
auf dem Wasser trägt meine Stimme. Steif sitzen die Brüder auf der Heckbank des
Bootes, als müßten sie Ludwig Emil für eine Porträtzeichnung gefällig werden.
Die Ufer des Neuen Sees spiegeln sich buschig bis waldig. Nichts, selbst der
junge Mann nicht, der auf einem nahen Stück Wiesenufer wiederholt den Handstand
probt, kann ihren Blick verlocken. Mich wollen hier und da abzweigende
Wasserläufe zu Bootsfahrten verführen, die in den Verlauf anders verwickelter
Geschichten münden. Aber ich halte Kurs, gebe der Versuchung nicht nach, suche
mit korrigierenden Ruderschlägen die Mitte des Sees und bringe mich in
feierliche Stimmung: »Freut euch mit mir! Welch Wunder! Von A bis Z,
zweiunddreißig Bände stark liegt endlich der Grimm, das deutsche Wörterbuch
vor.«
Sie wenden sich ab, bieten ihr Profil.
Ich
schmeichle: »Nun ist es an der Zeit, Versäumtes nachzuholen, euch endlich ein
steingehauenes Denkmal zu errichten. Das fehlt dem Tiergarten! Jetzt, da das
Wörterbuch fertig...«
Nicht einmal blinzeln wollen sie, sich räuspern.
Ich wiederhole: »Fertig! Es ist fertig!«
»Nichts
ist fertig.« Das ist wohl Jacob, der spricht, ohne die starre Pose aufzugeben.
»Nichts
wird fertig.« Das könnte Wilhelms Beitrag gewesen sein.
Obgleich
beide recht haben - denn was auf der Welt ist jemals fertig geworden? -, halte
ich dagegen: »Aber jadoch. Bis zum Schluß haben die Arbeitsstellen in Ost und
West, aller Teilung des Vaterlandes zum Trotz gemeinsam oder, wie ich zu sagen
wage, gesamtdeutsch Wort auf Wort nach seinem Herkommen befragt, jedes mit
Zitaten wuchernd bestätigt, ihm Anhängsel, oft im Übermaß, gegönnt und mit dem
Zypressenwald, dem, nach Novalis zitiert, ein Zypressenzweig entnommen wird,
das Ende gefunden...«
»Es
gibt kein Ende!« bekomme ich zweistimmig Antwort, worauf es vom Seeufer
zurückhallt: »kein Ende...«
Nun
muß auch ich zugeben, daß man in Ostberlin und in Göttingen bereits plant, alle
vorliegenden Bände zu überarbeiten, was von jahrzehntelanger Dauer sein wird;
sie nehmen das hin, nicken im Gleichtakt.
Um
die Brüder zu schonen, verschweige ich, daß insbesondere die Buchstaben A bis
F besonders gründlicher Überarbeitung bedürfen.
Eher
beiseite gesprochen, und während es mir gelingt, mit zwei, drei Ruderschlägen
das Boot zu wenden, auf daß ihnen die Sonne im Rücken steht, sage ich: »Nunja,
ein wenig nachbessern wird man wohl müssen.«
Zwar
erwähne ich kurz, daß wie zu ihrer Zeit ein gewisser Daniel Sanders nunmehr der
überaus gestrenge Kritiker Walter Boehlich das Gesamtkonzept des Wörterbuchs
zerzaust hat - »Doch Hans Neumann hat im >Monat< Antwort gegeben und der
Boehlichschen Polemik den Stachel genommen« -, halte aber geheim, daß zu
meiner, der gegenwärtigen Zeit das Grimmsche Wörterbuch digitalisiert
worldwide ins Web gefüttert ist, damit ein jeder mit seinem Notebook...
Stattdessen
rede ich von Linguisten und deren widersprüchlichen Thesen, vom
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