Grass, Guenter
war ihm der Eid aus Gründen, die in seiner Erforschung germanischer
Mythologie zu finden sein mochten, unverbrüchlich, wenn nicht heilig; hatte er
doch schon im Text der Nibelungen den Klageruf gefunden: »war sint die eide
komen...«
Deshalb
sein Name und der des Bruders unter der Protestation. Deshalb die Ausweisung.
Deshalb saß er nun in der Kutsche, schon über die Brücke und das Grenzwasser
hinweg, Seit an Seit mit Dahlmann. Oder saßen sie einander stumm gegenüber?
Jedenfalls lauschte er seinem rückläufig geseufzten Ach und gleichwohl dem
ursprünglichsten aller Laute, dem wohlklingenden, einzig vom Atem oder Odem
getragenen A nach. A wie aller Arten Anfang. A, das jedes Kind zu allererst
lallend hervorbringt. Das kurze wie das lange A. Inlautend, auslautend. Und
anlautend mit gedoppeltem A folgen ihm Aal und Aar, des Adlers altehrwürdiger
Name, dann das Aas, drauf die Aasgeier, doch bald schon mit der Partikel ab
eine Flut von Ableitungen wie abackern, abgründig, abhören, abmetzeln, bis hin
zum Abschied, Abweg, dem Abzweig, als wäre zu ahnen gewesen, daß ihm das A und
alles, was dem A anhing, bevorstehen würde.
Nun
soll, was nicht verbürgt ist, doch vorstellbar bleibt, noch bevor die Kutschen
zur Fahrt ins asylversprechende Kurhessen rollten, ein Student zu den
Immortellen einen Apfel als Wegzehrung durchs Fenster gereicht haben, worauf
Jacob Grimm, nachdem sein Ach verweht war, angesichts des Apfels, der, wie
anzunehmen, ein Winterapfel gewesen ist, zu Dahlmann sagte: »Ach, lieber
Freund, von A bis Z oder vom Adamsapfel bis zur Zwangsausweisung, wir bleiben
auch anderswo unserer altwüchsig reichen, so vergeßlichen wie - sobald sie sich
amtlich gibt - pedantischen Sprache treu.«
Sogleich
waren ihm zum geschenkten Apfel das Apfelgrau des Apfelschimmels, Orangen als
Apfelsinen, der hessische Apfelwein, dann noch zum Apfelbaum, den er späterhin
als überladenes Wortgespann kritisieren wird - »wir sagen ja auch nicht
eichelbaum wenn wir die eiche meinen« -, dennoch und trotz der bis ins
Kutscheninnere spürbaren Dezemberkälte der Apfelbaumblütenzweig zu Munde. Dazu
fiel ihm die altdeutsche Frühform »aphul« ein. Und was die Paradiesäpfel
betraf, zitierte er auswendig Goethe, dann, den Apfelbiß und dessen Folgen
wägend, Logau und Jean Paul. Schillers faule Apfel ließ er aus. Desgleichen
jenen Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt. Ich hätte ihn gerne auf neuesten
Stand bringen mögen, denn in der Welt der Computernutzer wird A wie Apple
buchstabiert.
Zum
Schluß - da waren die Papiere schon prüfend gesichtet und beide Kutschen am
Zollhäuschen vorbei - kam er erst rückläufig, sodann vorauseilend vom Urlaut A
zum Z und also auf den Zankapfel, eine Frucht, vor der er vorhin noch die ihm
nachtrauernden Studenten in seiner Abschiedsrede, wie der Chronist Berthlan
versichert, gewarnt hatte: »Verzankt Euch nicht im politischen Heute und Jetzt,
wenn Ihr doch Freunde fürs Leben sein wollt...«
Vorm
Witzenhausener Zollhäuschen, wo man kurz Rast einlegte, vertrat sich Jacob die
Beine. Nur Schritte entfernt fanden Dahlmann und Gervinus ins Gespräch. Der
ferne Bruder Ludwig Emil hätte diese Versammlung ernster Männer mit schnellem
Stift skizzieren können, leicht karikierend.
Neben
der Kutsche ging Jacob auf und ab, bis ihm eine alte Frau, die beiseite ihr
Enkelkind hielt, von Gesicht zu Gesicht gegenüberstand. Kälte, Atem, der
frostig verwehte. Für einen Augenblick stach die Sonne durch. Krähen im kahlen
Geäst. Da sagte die Alte zum Enkel hinab: »Kind, gib dem Herrn die Hand. Er ist
ausgewiesen, ein Flüchtling.«
So
tat das Kind. Nicht nur Dahlmann und Gervinus hörten und sahen. So wurde diese
Begegnung zur Legende. Jacob, weil angesprochen, erschrak und flüchtete sich in
die Kutsche. Doch noch während der Fahrt nach Kassel, das ihm aus seiner Zeit
im Dienst wechselnder Herren vertraut war, nun aber eher zögerlich Zuflucht
versprach, und während restliche Studenten, die sich im Hessischen
reittaugliche Pferde gemietet hatten, die Asylsuchenden begleiteten, lief,
angestoßen vom kennzeichnenden Wort »ausgewiesen«, seine innere Rede weiter, in
deren mäandernden Verlauf Sätze und Nebensätze geflochten waren, die alle dem
Buchstaben A anhingen: Anmut und Amme, des Storchen uralter Rufname Adebar.
Vielleicht stand ihm auch der Abgrund vor Augen, jene Aussicht ins Nichts, die
in späterer Zeit viele Exilierte teilten, deren Quartier abschätzig »Grand
Hotel Abgrund«
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